Meister Eckhart in Erfurt

Bericht von der internationalen Tagung
vom 25. bis 28. September 2003
von Eckhart Triebel
bericht
Donnerstag, 25.9.
Eröffnung
Andreas Speer
Helmut G. Walther

Freimut Löser
Niklaus Largier
Loris Sturlese
Freitag, 26.9.
Jan A. Aertsen
Georg Steer
Samstag, 27.9.
Walter Senner

s. Aktuell - Bericht

  Ursprünglich wollte ich am Mittwoch, den 24. September anreisen und noch zwei Veranstaltungen im Rahmen des "Internationalen Eckhart-Workshop" am 23. und 24. September im Kapitelsaal der Predigerkirche wahrnehmen, aber es kam mal wieder anders. Das Programm sah vor:
  14.30 Uhr Besuch der Bibliotheca Amploniana
  in den Räumen der neuen Universitätsbibliothek
  16.00 Uhr Das Werk Meister Eckhart in den Handschriften des Mittelalters
  Workshop mit den Herausgebern der kritischen Eckhart-Gesamtausgabe Georg Steer (Eichstätt) und Loris Sturlese (Lecce)
  Nachdem wir endlich unser Hotel gefunden und eingecheckt hatten, war es bereits halb drei geworden, so dass ich schweren Herzens auf den Besuch der Amploniana verzichtete. Dafür fand ich mich vor 16.00 Uhr am Kapitelsaal der Predigerkirche ein, wo laut Veranstaltungskatalog der Eckhart-Workshop stattfinden sollte und traf dort auf einen weiteren Teilnehmer, der ebenfalls zu dem angekündigten Workshop wollte. Der Kapitelsaal war verschlossen und nachdem sich noch ein Dritter dazugesellte, telefonierten wir mit dem Tagungsbüro um zu erfahren, daß der Workshop eigentlich in den Räumen der Universitätsbibliothek hatte stattfinden sollen, aber aufgrund des großen Andrangs in einen Hörsaal verlegt worden war. In Anbetracht der inzwischen fortgeschrittenen Zeit beschloß ich, für diesen Tag auf die Veranstaltung zu verzichten. Dafür machten wir uns einen schönen Tag in Erfurt, was ich nur jedem empfehlen kann, da der teils mittelalterliche Stadtkern ein Menge Sehenswürdigkeiten aufzuweisen hat.

Donnerstag, 25. September

  Die internationale Eckhart-Tagung im Coelicum der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt sah für die drei Tage von Donnerstag bis Samstag von 9.30-13.00 eine Vormittagssektion mit je drei Beiträgen, am Donnerstag von 15.00-18.15 eine Nachmittagssektion mit drei Beiträgen, an den beiden folgenden Tagen eine Nachmittagssektion von 15.00-17.30 mit je zwei Beiträgen und an den drei Abenden um 20.00 einen Abendvortrag vor, dem am Donnerstag ein Empfang durch den Präsidenten der Universität Erfurt und am Freitag ein Empfang durch den Oberbürgermeister der Stadt Erfurt folgen sollte. Abgeschlossen werden würde die Veranstaltung durch einen ökumenischen Gottesdienst am Sonntag.

Eröffnung und Grußworte
  Die Veranstaltung begann mit einer kurzen Eröffnungsrede seitens des Tagungsleiters Andreas Speer (Würzburg) und einigen Grußworten u.a. vom Vizepräsidenten der Universität Erfurt, der darauf hinwies, daß die Veranstaltung unter einem "Vize"-Stern stünde, da weder der Präsident der Universität noch der Oberbürgermeister anwesend seien. Eingerahmt wurde das Eröffnungsprogramm von Susanne Herre, die mehrere anonyme Musikstücke aus dem Italien des 14. Jahrhunderts auf der Mandoline spielte, was zusammen mit dem hervorragend gewählten Veranstaltungsort für die passende Athmosphäre sorgte.

Speer
  Die Vormittagssektion eröffnete Andreas Speer (Institut für Philosophie) mit einem Vortrag über Zwischen Erfurt und Paris. Eckharts Projekt im Kontext, von dem ich, ehrlich gesagt, nicht viel verstanden habe, außer das Boethius und Dionysius Areopagita als Grundlage für Eckharts Philosophie zu verstehen seien. Ich hoffe, das bald ein Tagungsband erscheinen wird, um diesen und die anderen Beiträge noch einmal in Ruhe nachlesen zu können.

Walther
  Dem nachfolgenden Beitrag des Historikers Helmut G. Walther (Jena) zu: Ordensstudium und theologische Profilbildung. Die Studia Generalia in Erfurt und Paris an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert konnte ich schon eher folgen, vor allem, als er meinem hier in mehreren Artikeln gezeigten Interesse entsprach, den historischen Eckhart zu erkunden. Er referierte kurz den bekannten Lebensweg Eckharts, wobei mich etwas verwunderte, das er den 28. Januar 1328 als Todesdatum nannte, was unwidersprochen blieb, obwohl es sich dabei keineswegs um einen historisch gesicherten Tatbestand handelt (s. dazu Leben - Epilog).
  Die Zeile in nostris temporibus aus der Rechtfertigungsschrift bezog er auf einen Streit in Paris von 1293 (der mir bisher nicht bekannt war), ohne z.B. auf die Argumente Trusens oder die Acta et regesta Sturleses zum Thema einzugehen. Er verwies auf die Schwierigkeiten des Ordens mit einigen ihrer Lehrstuhlinhaber in Paris Anfang des 14. Jahrhunderts und das Eckhart nach Thomas von Aquin die 'Ehre' zuteil wurde, 1311 zum zweiten Mal auf diesen Stuhl berufen zu werden. Schließlich diskutierte er noch die Möglichkeit der Errichtung eines Generalstudiums der Dominikaner in Erfurt zu Beginn des 14. Jahrhunderts und wies auf eine Dissertation an der Jenaer Universität hin, die das Thema zum Gegenstand habe und demnächst erscheinen solle.
  In der anschließenden Diskussion (ein eher euphemistischer Begriff für die kurzen Frage - Antwort - Sequenzen nach einem Vortrag, an dem meistens die gleichen Personen teilnahmen, wobei schnell klar wurde, das es sich um eine recht eingeschworene Gemeinschaft handelte, die sich teilweise schon seit Jahrzehnten kannte, was aber der allgemeinen Tagungsathmosphäre eher zugute kam) stellte Pater Walter Senner O.P. klar, daß die zweite Berufung Eckharts weniger eine 'Ehre' darstellte, sondern vielmehr im akuten Bedarf seines Ordens bestand, einen bekannt verläßlichen Bruder nach Paris zu holen, Eckhart also als "Retter in der Not" gebraucht wurde. Das erinnerte mich an die "Feuerwehrmission", als Eckhart 1307 nach Böhmen geschickt wurde, um dort für Ordnung zu sorgen.

Löser (s.a. Straßburg 2006)
  Anschließend hielt der Philologe und ehemalige Mitarbeiter der deutschen Werke, Freimut Löser (Regensburg), einen Vortrag über Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuer Funde. Zunächst berichtete er, daß Nigel F. Palmer in Oxford einen neuen Handschriftenfund gemacht hätte, in dem auf bisher unbekannte Eckhart-Texte verwiesen würde, ohne das die Texte selbst jedoch dazu vorlägen (Palmer entdeckte [veröffentlicht 1998] im Eberbacher Bibliothekskatalog [Kloster Eberbach im Rheingau] von 1502 Einträge über drei lateinische Eckhart-Handschriften ("X18 Volumen maius magistri Eckardi Initium Agnitionem enim rerum. X19 Opus tripertitum magistri Eckardi Initium Radix siue origio. X20 Opus tripertitum Initium Doctoris mentio in hoc.") Palmer plädiert dafür, "dem Eberbacher Katalog Glauben (zu) schenken und X19 als einen verlorenen Teil von Eckharts Hauptwerk (zu) identifizieren. Ob 'Opus propositionum' oder 'Opus quaestionum', oder beide Teile in einem Band, bleibt ungewiß" [Steer, Schriften, S. 229 Anm. 65]).
  Dann kam er auf den Paradisus anime intelligentis zu sprechen. Allgemein würde mit Ruh davon ausgegangen, das die Sammlung in Erfurt zusammengestellt worden sei, es gäbe aber gute Gründe, sie mit Steer nach Köln zu verlegen. Zum einen gäbe es ähnliche Sammlungen aus Köln und zum anderen sei die Sprache einiger Predigten nicht eindeutig thüringisch, wie beispielsweise von Strauch behauptet worden war, sondern eher dem rheinischen zuzuordnen. Zur Sammlung selbst referierte er die bekannten Fakten, daß die radikalen Aussagen Eckharts vom Redaktor entschärft worden waren, alle innertextuellen Bezüge (also z.B. die Verweise) systematisch getilgt worden waren, die Texte durchweg gekürzt wurden und eine Auswahl darstellten, woraus die Schlußfolgerung gezogen werden kann, das ursprünglich ein umfangreicherer Kontext an Predigten bestanden haben muß.
  Dann kam er auf die anderen Prediger der Sammlung zu sprechen und dabei insbesondere auf Hane, den Karmeliten, von dem nicht viel bekannt ist bisher und auf dessen Spur er glaubt, in Tschechien gekommen zu sein in Form eines Dominikaners Johannes, dictus Karmeliter, der zu Eckharts Zeit in Böhmen predigte, was wiederum mit dessen o.a. Reise zusammenhängen könnte. Außerdem hofft er auf der Spur einer weiteren vollständigen Handschrift des Paradisus zu sein, wobei es dann bei der Zählung der bisher bekannten Handschriften zu einigen Unklarheiten kam. Genaueres wollte er begreiflicherweise noch nicht bekanntgeben.
  Es ist zu hoffen, daß Löser in der ehemaligen Dominikanernation Bohemia fündig wird, denn bisher ist über den Zeitraum 1307-10 genau genommen nichts bekannt. Danach war erst einmal Mittagspause, was wir u.a. zu einem Milchcafé am Domplatz nutzten.

Largier
  Die Nachmittagssektion eröffnete Niklaus Largier aus Berkeley mit dem Vortrag Eckhart-Predigten im "Paradisus" und in einigen anderen Predigtsammlungen. Darin reflektierte er noch einmal seine Ausführungen im Nachwort zur 2. Ausgabe des Paradisus von 1998 und diskutierte ausführlich, was er in seinem "Abstract" zum Vortrag so formulierte: "einerseits möchte ich zeigen, wie die Sammlung Eckharts Predigten in einen bestimmten Kontext mit anderen Predigten stellt und so eine bestimmte Eckhartdeutung und Eckhartlektüre suggeriert; andererseits möchte ich in Ansätzen aufzeigen, wie hier gleichzeitig eine ganz bestimmte Dionysiusrezeption vorliegt und inwiefern die Predigtsammlung damit als Votum für eine bestimmte Dionysiuslektüre zu sehen ist." Dabei widmete er sich besonders dem Bild des Spiegels für die Gottesgeburt in der Seele bzw. des Intellekts und den Rückgriff auf die entsprechenden Thesen des Dionysius seitens verschiedener Schriftsteller unterschiedlicher Provenienz im 13.-15. Jahrhundert.

  Bei den beiden anderen Beiträgen der Nachmittagssektion, von Dagmar Gottschall (Università degli Studi di Lecce) "Man möhte wunder tuon mit worten ..." (Pr. 18 Q). Zum Umgang Meister Eckharts mit Wörtern in seinen deutschen Predigten und Markus Enders (Freiburg i. Br.) Gott ist die Ruhe und der Friede. Eine kontextbezogene Interpretation der Predigten Q 7 (Populi eius qui in te est, misereberis) und Q 60 (In omnibus requiem quaesivi) des Meister Eckhart aus seiner zweiten Erfurter Zeit (ca. 1303-1311), konnte ich leider nicht anwesend sein.
  In ihrem "Abstract" schreibt Gottschall: "Die Eckhartforschung behandelt Eckharts Sprachtheorie unter dem Aspekt des thomistischen Dreistufenmodells, bestätigt von Eckhart selbst (...) An der konkret menschlichen Sprache mit ihrem Wortmaterial scheint Eckhart jedoch wenig interessiert, ja die Forschung konstatiert ihm sogar eine negative Haltung zur Sprache und zum Sprechen. Dagegen steht Eckharts Äußerung in Pr. 18, man könne Wunder tun mit Worten, die nicht mit Sprachpessimismus zu vereinen ist. Der folgende Beitrag widmet sich genau diesem Aspekt von Eckharts Sprachtheorie."
  Enders legte kein "Abstract" vor, was umso bedauerlicher ist, als mich der Vortrag selbst gerade in Bezug auf die Darstellung der beiden Predigten auf diesen Internet-Seiten sehr interessiert hätte. Der interessierte Leser ist hier auf den Tagungsband angewiesen. Sobald ich in Erfahrung bringen kann, wann und wo der erscheinen wird, werde ich das umgehend bekannt geben.

Sturlese (s.a. Straßburg 2006)
  Den Abendvortrag von Loris Sturlese (Lecce), Herausgeber der lateinischen Werke mit dem Titel Philosophie im liturgischen Kontext: Meister Eckharts Predigtwerk leitete Speer dadurch ein, indem er daran erinnerte, daß Sturlese anläßlich einer Tagung zur Bibliotheca Amploniana einige Jahre zuvor (1995) ebenfalls in Erfurt einen Aufsehen erregender Vortrag gehalten hatte, worin er überzeugend zugunsten einer Neudatierung einiger Teile des Opus tripartitum auf die Jahre 1302-1305 argumentiert hatte (s. Werk - Opus), und gab seiner Hoffnung Ausdruck, das Sturlese auch diesmal einen ähnlich brisanten Vortrag halten werde.
  Wie übrigens alle Vortragenden (denen ich zuhören konnte), zitierte auch Sturlese Kurt Ruh (dessen Geist unübersehbar über der Veranstaltung schwebte), wenn auch ironisch, indem er dessen Zuordnung des Paradisus nach Erfurt in Frage stellte. Bekanntermaßen sind ja die 64 Predigten nach "de tempore" und "de sanctis" unterteilt und er wollte wissen, ob sie eine liturgische Ordnung aufweisen würden. Theisen hätte dies kategorisch verneint, weshalb er sich zumindest für die sermones de temore selbst an die Arbeit gemacht hätte und seine Ergebnisse hätten ergeben: "Die Reihe ist tadellos richtig."
  Im Gegensatz zu Ruh, der vom "Sammler" des Paradisus sprach, möchte Sturlese lieber vom "Herausgeber" sprechen und meinte: "Es war eine rein literarische Angelegenheit." In Fortführung der Überlegungen von Ruh und Löser folgerte er, daß ein Korpus der deutschen Predigten Eckharts vorgelegen haben muß und fragte, ob es ein Korpus aller Predigten in liturgischer Reihenfolge gegeben hat. Er fragte, wenn es ein Handexemplar Eckharts des Opus tripartitum und der Sermones gab, was dann dagegen spräche, wenn er ebenso über eines der deutschen Predigten verfügte, und deutete an, das es möglich sein müßte, den Versuch einer Rekonstruktion dieses Handexemlares zu wagen. Er zeigte sich auch gegenüber den Ergebnissen Theisens von 1990 sehr skeptisch und forderte eine Neuordnung aller Predigten nach ihrem liturgischen Kontext (s.a. Werk - Aktuelle Fragestellungen).
  In seinen eigenen Worten heißt es im "Abstract": "Nun ist seit den Arbeiten Freimut Lösers erwiesen, daß der Paradisus-Herausgeber selbst aus einer umfangreicheren Eckhart-Vorlage schöpfte (Spuren in Codex Lo4), und das heißt, aus einem Corpus deutscher Eckhart-Predigten. Dieses Corpus kann nur liturgisch geordnet gewesen sein. Eine klare Parallele zeigen die Untersuchungen Josef Kochs zur Überlieferungssituation des lat. Opus sermonum Eckharts. Eckhart selbst hat seine Entwürfe in der Abfolge des Kirchenjahrs zusammengestellt, in einem Buch, das heute noch von der Struktur des Codex Cusanus widergespiegelt wird. Es spricht nichts dagegen, ein solches Vorgehen Eckharts auch für seine deutschen Predigten anzunehmen, zumal Eckhart selbst zweimal von seinem buoch spricht."
  Nach der "Diskussion" ging es ein paar Treppen tiefer zum Empfang durch den Vizepräsidenten der Universität Erfurt (s.o.) mit Weiss- und Rotwein und ohne Bufett, an dem ich zu meinem Leidwesen nur kurz partizipieren konnte.

Freitag, 26. September

  Von den Veranstaltungen dieses Tages konnte ich nur die erste und den Abendvortrag besuchen, da wir uns einiges vorgenommen hatten, wozu es dann leider nicht kam, aber das ist eine andere Geschichte.

Aertsen
  Jan A. Aertzen (Thomas-Institut, Köln) eröffnete die Vormittagssektion mit dem Vortrag Der "Systematiker" Eckhart. In seinem "Abstract" schreibt er: "Allein der Titel meines Vortrages wird manchen Eckhartforscher schon ein Gräuel sein: Eckhart als "Systematiker" zu betiteln scheint eine contradictio in adiecto zu sein. (...) Im Gegenzug zu einem gängigen Forschungsmodell vertrete ich die These: Jeder Deutung, die den "Systematiker" Eckhart aus dem Auge verliert, haftet der Charakter des Willkürlichen und Beliebigen an."
  In das Zentrum seines Vortrages stellte er "Eckharts Projekt des Opus tripartitum", das sein ganzes Schaffen durchziehe und bemerkte, daß es dazu kein Äquivalent im Mittelalter gäbe. Er führte an, daß in der Eckhart-Forschung mehrfach "Wenden" in seinem Werdegang konstatiert worden seien und zitierte sie folgendermaßen:
Wende 1: die 1. Pariser Quaestio als Bruch mit dem "thomistischen" Eckhart
Wende 2: das Opus tripartitum
Wende 3: das Liber parabolarum Genesis als Abkehr von dem im Opus vorgestellten Werk
  Seiner Meinung nach könnte man kaum von einer Wende sprechen, wenn in den Auslegungen (den Expositiones) an mehr als 20 Stellen aufs Thesenwerk verwiesen würde und im Gegensatz zu Sturlese sähe er auch im Liber parabolarum keine Aufgabe des Opus, sondern eher dessen Fortsetzung, worauf auch die Verweise aus ersterem aufs letztere hinweisen würden.
  Er ging dann noch ausführlich auf die vierzehn Traktate des Opus ein, die er in der Zusammenfassung des "Abstract" so beschrieb: "Das Thesenwerk gliedert sich thematisch in zwei Teile: eine Transzendentalienmetaphysik (Trakt. I-VI) und eine Metaphysik der Über- und Unterordnung (Trakt. VII-XII)."
  In der daran anschließenden Diskussion zeigte sich Sturlese "sehr beeindruckt" von der Argumentation Aertsens (mir ging es genauso) und meinte, er wolle noch einmal überprüfen, welche Verweise aus dem Liber parabolarum aufs Opus verweisen würden. Außerdem wies er darauf hin, daß man es bei Eckhart mit der paradoxen Situation zu tun habe, das er einerseits als Einziger eine großartige Ankündigung eines Werkes hinterlassen habe und andererseits aber auch einer der wenigen sei, von dem es eben kein Werk gäbe.
  Aertsen erzählte dann noch, daß er zur Zeit an einem Buch zum Thema systematische Orientierung Eckharts arbeite und, weil es ihn doch sehr reize, darin eine Rekonstruktion des neunten Traktates "Von der Natur des Oberen und von der des Niederen, seines Gegensatzes" (s. Opus) versuchen wolle, wozu es im Werk Eckharts mehr als genug Beispiele geben würde, die als Anhaltspunkte dienten könnten.
  Burkhard Mojsisch, anscheinend einer der Vertreter der Gegenthese, fragte, wie es mit dem "Systematiker" Eckhart vereinbar sei, daß er sich doch explizit selbst korrigiert habe - etwas, was man bei einem mittelalterlichen Theologen und Philosophen höchst selten antreffe - nämlich, wenn er in den Pariser Quaestionen sage (und er zitierte es frei - wenn es denn das nachstehende Zitat ist, weil ich es auf die Schnelle nicht mitschreiben konnte): "Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est - Drittens zeige ich, daß ich nicht mehr der Meinung bin, daß Gott erkennt, weil er ist; sondern weil er erkennt, deshalb ist er" (Quaestiones Parisienses n. 4, [LW 5, S. 40]), worauf Aertsen entgegnete, er sähe das nicht so. Er würde das absolut nicht als eine Selbstkorrektur Eckharts lesen, wollte aber nicht genauer darauf eingehen. Weiteres: siehe sein Buch.

  Damit waren für mich die Vor- wie Nachmittagssektion beendet, obwohl noch einige sehr interessante Vorträge zu erwarten waren, wie man dem Programm entnehmen konnte:
  Theo Kobusch (Bochum), Gotteserkenntnis auf dem Wege der Transzendentalienphilosophie
Wouter Goris (Köln, Amsterdam), Die Freiheit des Denkens. Meister Eckhart und die Pariser Debatte
Jeffrey Hamburger (Cambridge, MA), Johannes Scotus Eriugena deutsch redivivus: A Partial Middle High German Translation of the "Vox spiritualis" ans Its Implications for the History of German Art and Mysticism at the Time of Eckhart
Jeremiah Hackett (South Carolina), The Reception of Meister Eckhart: Mysticism, Philosophy and Theology in Jordanus of Quedlinburg

  Statt dessen wollten wir uns die Umgebung Erfurts besehen, einen Ausflug machen nach Hochheim, dem wahrscheinichen Geburtsort, Wangenheim, wo Eckhart vermutlich heranwuchs, Tambach, wo sein Vater im Kloster Georgenthal des öfteren zu tun hatte und auch Gotha, wo im Zisterzienserinnenkloster 1305 das "Testament" verlesen wurde - aber das blieb alles Wunsch, da das Auto nicht ansprang. Statt dessen durften wir uns mit der Straßenbahn auf den Weg nach Erfurt Nord machen, Obi aufsuchen, um Werkzeug einzukaufen usw. Es bleibt nur soviel zu sagen, daß das Auto wieder lief, bevor wir dem Abendvortrag beiwohnen konnten.

Steer
  Bevor Georg Steer (Eichstätt) seinen Vortrag Meister Eckharts deutsche reden und predigten in seiner Erfurter Zeit im Festsaal des Rathauses halten konnte, eröffnete der stellvertretende Oberbürgermeister (verantwortlich für das Baureferat) die Veranstaltung mit dem Hinweis, der Oberbürgermeister sei aufgrund seiner Anwesenheit beim deutschen Städtetag bitte zu entschuldigen, und gab dann einige Erläuterungen zur Ausstattung des Gebäudes und besonders des Festsaales selbst.
  Dann begab sich ein weißhaariger älterer Herr, Herausgeber der deutschen Werke, nach vorn und eröffnete seinen Beitrag mit dem wohl spektakulärsten Zitat aus der Armutspredigt Eckharts. Von dem sehr faktenreichen Vortrag und den vielen aufgeworfenen Fragen kann ich hier nur einige wiedergeben. So fragt er zu dem Eingangszitat, warum nichts davon in der Anklage enthalten war. Oder ob die Predigten 12-15 und 22 (wovon Quint und Koch sicher ausgingen - s. Werk) tatsächlich nach Köln zu datieren seien und zitierte dazu Ruh von 1999: "Keine Kölner Predigt ist nachweisbar." Er führte aus, daß die Forderung nach einer Chronologie bereits 1887 von Preger aufgestellt worden war (im Bezug zu Tauler). Zum Predigtzyklus der Predigten 101-104 bemerkte er, daß er Passagen enthalte, die sonst nur im Johanneskommentar enthalten seien. Wie paßt das zusammen, da der Zyklus in die Jahre 1298-1305 falle, der Kommentar aber gemeinhin viel später angesetzt würde? Viele Gedanken des Zyklus würden aber auch im Kommentar zu Sapientia aufgegriffen werden, der auch in dieser Zeit entstanden sein soll. Als Schlußfolgerung ergäbe sich daraus, das Eckharts Thematik der Gottesgeburt in Erfurt entstanden wäre.
  Zum Paradisus merkte er an, daß Otto Behagel bereits 1922 für das Rheinland als Abfassungsort plädierte. Der Paradisus wäre nach 1326 und vor 1341 (Nikolaus von Landau verwendet Textpassagen daraus) abgefasst worden und nach Eckharts Tod entstanden.
  Während seines Vortrages präsentierte Steer verschiedene Folien, darunter eine mit einer chronologischen Liste der lateinischen Texte Eckharts, die etwas anders ausfällt als die, die ich bisher hier präsentiert habe. Obwohl ich meine Abschrift noch mal mit der Folie überprüft habe, kann ich keine Gewähr für die Richtigkeit übernehmen, da mir zuwenig Zeit für die Überprüfung zur Verfügung stand. Ich weiß auch nicht, obwohl sie der Öffentlichkeit präsentiert wurde, ob sie auch für die Öffentlichkeit gedacht war. Wie dem auch sei, unter Chronologie sind die Ergebnisse, die ich aus der Literatur entnommen habe, denen Steers gegenübergestellt.
  In der anschließenden Diskussion stellte Burkhard Mojsisch die Frage, wie die Reden denn nun genannt werden sollten. Die einen sprächen von den Reden der Unterscheidung, andere von den Reden der Unterweisung, wieder andere nur von den Reden. Steer gab die Frage an den anwesenden "Spezialisten", den Germanisten Burkhard Hasebrinck weiter, der sich sinngemäß so dazu äußerte, daß es bei den 44 Handschriften, die die Reden enthielten, nur drei gäbe, die eine "Überschrift" trügen, und die würden auch nicht von den Reden sprechen, sondern von der Rede der unterweisunge. Daraus könne aber nichts geschlossen werden. Man könne zwar Sturleses Vorschlag folgen (den der in einer Diskussion zu einem vorangehenden Vortrag gemacht hatte) und einfach nur von den Reden sprechen, was aber für die Germanisten problematisch sei, da es mehrere Reden verschiedener Autoren gäbe, weshalb er dafür plädieren würde, einfach von den "Erfurter Reden" zu sprechen. Dieser Vorschlag gefiel mir so gut, daß ich sie auf diesen Internet-Seiten ab sofort immer so nennen werde, wenn die Rede auf die "RdU" kommt.
  Natürlich gab es auch noch andere Fragen und natürlich gab es danach auch noch Wein und Säfte (aber kein Bufett) und Gespräche in Hülle und Fülle, aber für mich leider keinen Ansprechpartner, obwohl ich genug Fragen an den einen oder anderen gedanklich notiert hatte - aber da ich es nun mal nicht mag, mich einfach jemandem aufzudrängen, verließen wir die Veranstaltung recht bald und verbrachten noch einen angenehmen Abend.

Samstag, 27. September

  An diesem Tag konnte ich nur noch an einer Veranstaltung teilnehmen, da wir in Berlin zurückerwartet wurden. Und da noch einige Vorbereitungen zu treffen waren, mußte ich die sicher nicht uninteressanten ersten beiden Vorträge der Vormittagssektion
  Udo Kern (Rostock) "Der Mensch sollte werden ein Gott suchender". Zum Verständnis des Menschen in Eckharts "rede der unterscheidunge"
Burkhard Hasebrink (Göttingen / Freiburg i. Br.) sich entbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in der "rede der unterscheidunge"
  ausfallen lassen.

Senner (s.a. Straßburg 2006)
  Aber den Vortrag des Dominikanerpaters Walter Senner (Grottaferrata) über Die "rede der unterscheidunge" als Dokument dominikanischer Spiritualität wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Auch bei seinem Vortrag kann ich nur einige der Informationen wiedergeben. Pater Senner erschien zur Feier des Tages in seiner Ordenskleidung.
  Ausgehend von dem Titel der "rede": Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern hâte, diu in dirre rede vrâgeten vil dinges, dô sie sâzen in collationibus mit einander ging Senner nach dem Vorbild Eckharts der Reihe nach auf die einzelnen Elemente ein:
  Vikar war eine der wichtigsten Aufgaben im Orden und das Vikariat Thuringia umfaßte Thüringen und Nord- und Mittelhessen ohne Frankfurt/Main. Als Vikar wurde man vom Provinzial bestimmt, während man zum Prior bis auf Widerruf gewählt wurde. Predigten für die Öffentlichkeit fanden am Nachmittag oder Abend statt. Da das Publikum am Sonntagvormittag an den Predigten in ihren Pfarrkirchen teilnahmen, gab es am Nachmittag zusätzliche Predigten im Predigerkloster.
  Der Ausdruck "kinder" wäre keine Aussage über das Alter, weil oft darunter verstanden würde, daß vor allem Novizen oder junge Ordensbrüder gemeint seien. "kinder" wäre aber eine allgemeine Aussage über das anwesende Publikum, unter das auch die conversi oder Laienbrüder fallen würden, die gleichberechtigt mit zum Kloster gehört hätten. Zur Collatio führte er aus, das sie das Mittel des Priors war, die geistliche Ausrichtung zu bestimmen bzw. die Schwerpunkte der geistlichen Orientierung zu setzen. Daher würde auch der Titel "rede der unterscheidunge" darauf hinweisen, das hier das Wichtige vom Nebensächlichen getrennt werden sollte.
  In einer Nebenbemerkung wies er darauf hin, daß es "Spirituale" wie bei den Franziskanern auch bei den Dominikanern gab, wenn auch nur im kleinen Rahmen und auch bisher nur in einem Namen aus Barcelona greifbar.
  Was die tatsächlichen "kinder", also die Novizen betraf, deren Eintrittsalter in den Orden er mit 18 Jahren angab (nach meinen Informationen lag es zur Zeit Eckharts bei 14 Jahren - s. Auszüge aus den Konventionen des Ordens), so führte er aus, das deren Profess (also der tatsächliche Eintritt in den Orden nach dem Noviziatsjahr) vom jeweils höchstrangigen Anwesenden abgenommen wurde, d.h. wenn zufällig der Ordensmeister anwesend war, von ihm. Im Professgelübde verspricht der bisherige Novize Gehorsam zunächst Gott, dann der Jungfrau Maria und erst an dritter Stelle dem Orden. Das Gehorsamsgelübde umfaßt gleichzeitig das Armuts- und Keuschheitsgelübde. In seinem "Abstract" formulierte Senner es so: "Daß Eckhart [in der "rede der unterscheidunge"] mit dem Gehorsam beginnt und daß dieses Leitthema die ganzen Reden durchzieht, kommt nicht von ungefähr - ist der Gehorsam doch im Predigerorden das explizit ausgesprochene Ordensgelübde, in dem Armut und Keuschheit eingeschlossen sind."
  Schließlich ging er noch auf die Frage des Übertritts zu einem anderen Orden ein, was er in das Beispiel packte: zu den Benediktinern galt als "Abstieg", während ein Übertritt zu den Karthäusern als dem "strengeren" Orden erlaubt war.

  Zum Abschluß kann ich eigentlich nur noch auf die Vorträge hinweisen, die ich leider nicht mehr mit anhören konnte, weil ich da bereits auf dem Rückweg war:
  Marie-Anne Vannier (Strasbourg) Les entretiens spirituels, résumé de la penséee d'Eckhart
Karl Albert (Wuppertal) Eckharts intellektuelle Mystik
  Wobei ich den Beitrag von Albert wirklich sehr gerne noch gehört hätte. Und natürlich, den Abendvortrag im Coelicum von Bernard McGinn (Chicago) über The Problem of Mystical Union in Eckhart, Suso and Tauler mußte ich auch entbehren, wobei ich jetzt nicht weiß, ob der anschließende Empfang tatsächlich durch den Präsidenten der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt oder doch nur durch seinen Vize erfolgte ...

  Abschließend kann ich nur sagen, es war alles in allem eine wunderbare und rundum gelungene Veranstaltung. Es paßte alles zusammen und auch das Wetter spielte mit. Ein Resumé kann ich an dieser Stelle nicht ziehen, auch weil ich nicht alle Vorträge mitbekommen konnte, aber ich denke, daß Sturlese mit seiner Forderung durchaus den Weg vorgegeben hat, den die Eckhart-Forschung in nächster Zeit gehen wird. Und, wie es aussieht, scheint sich ja auch die Herausgabe der deutschen und lateinischen Werke dem Ende eines langen Weges zu nähern. Es bleibt spannend.