Consideravit semitas domus suae et panem otiosa non comedit 1
(Pr. Quint 32)

p32

Text (mhdt. - nhdt.)
Anmerkungen

Textbestand-Diagramm
Hss.-Chronologie
Bearbeitung
Beschreibung
Datierung

hi lerit meister Eckart wi man forsteit bi deme hus di sele und bi den stigin di crefte der sele und wi sich di dri crefte der sele einin und gizin sich in die gotliche duginde. [Strauch, S. 4]

Zum mittelhochdeutschen Text der Strauchschen Edition bei Nils Gülberg im Internet.

Aufbau der Predigt:

domus duae und semitas
consideravit
versmâhte

(nach Quint, S. 131)

  'Ein guot vrouwe hât umbeliuhtet die stîge irs hûses und enhât ir brôt niht müezic gezzen'.

  'Eine gute Frau hat die Stege ihres Hauses abgeleuchtet und hat ihr Brot nicht müßig gegessen' (Spr. 31,27).

  Diz hûs meinet genzlîche die sêle, und die stîge des hûses bezeichent die krefte der sêle. Ein alter meister sprichet, daz diu sêle ist gemachet enmitten zwischen einem und zwein. Daz ein ist diu êwicheit, diu sich alle zît aleine heltet und einvar ist. Diu zwei daz ist diu zît, diu sich wandelt und manicvaltiget. Er wil sprechen, daz diu sêle mit den obersten kreften rüeret die êwicheit, daz ist got, und mit den nidersten kreften rüeret si die zît, und dâ von wirt si wandelhaftic und geneiget ûf lîphaftiu dinc, und dâ von wirt si entedelt. Möhte diu sêle got genzlîche bekennen als die engel, si enwære nie in den lîchamen komen. Möhte si got bekennen âne die werlt, diu werlt enwære nie durch sie geschaffen. Dar umbe ist diu werlt durch sie geschaffen, daz der sêle ouge geüebet und gesterket werde, daz si daz götlîche lieht lîden mac. Als der sunnen schîn, der sich niht enwirfet ûf daz ertrîche, er enwerde bewunden in dem lufte und gebreitet ûf anderiu dinc, sô enmöhte ez des menschen ouge niht gelîden: alsô ist daz götlîche lieht alsô überkreftic und klâr, daz ez der sêle ouge niht gelîden enmöhte, ez enwerde gestætiget und ûfgetragen bî materie und bî glîchnisse und enwerde alsô geleitet und gewenet in daz götlîche lieht.

  Dieses Haus bedeutet im ganzen die Seele, und die Stege des Hauses bedeuten die Kräfte der Seele. Ein alter Meister sagt, daß die Seele gemacht ist zwischen Einem und Zweien. Das Eine ist die Ewigkeit, die sich allzeit allein hält und einförmig ist. Die Zwei aber, das ist die Zeit, die sich wandelt und vermannigfaltigt. Er will (damit) sagen, daß die Seele mit den obersten Kräften die Ewigkeit, das ist Gott, berühre; mit den niedersten Kräften (hingegen) berührt sie die Zeit, und dadurch wird sie dem Wandel unterworfen und körperlichen Dingen zugeneigt, und dabei wird sie entadelt. Könnte die Seele Gott ganz erkennen, wie's die Engel (können), sie wäre nie in den Körper gekommen. Könnte sie Gott erkennen ohne die Welt, so wäre die Welt nie um ihretwillen geschaffen worden. Die Welt ist um ihretwillen zu dem Ende geschaffen worden, daß der Seele Auge geübt und gestärkt werde, auf daß sie das göttliche Licht aushalten könne. So wie der Sonne Schein sich nicht auf das Erdreich wirft, ohne von der Luft umfangen und über andere Dinge ausgebreitet zu werden, weil ihn sonst des Menschen Auge nicht aushalten könnte: ebenso ist das göttliche Licht so überstark und hell, daß der Seele Auge es nicht aushalten könnte, ohne daß es (= der Seele Auge) durch die Materie und durch Gleichnisse gekräftigt und emporgetragen und so geleitet und eingewöhnt würde in das göttliche Licht.

  Mit den obersten kreften rüeret diu sêle got; dâ von wirt si gebildet nâch gote. Got ist gebildet nâch im selben und hât sîn bilde von im selben und von niemanne mê. Sîn bilde ist, daz er sich durchkennet und al ein lieht ist. Swenne in diu sêle rüeret mit rehter bekantnisse, sô ist si im glîch an dem bilde. Drücket man ein ingesigel an ein grüene wahs oder an ein rôt oder in ein tuoch, daz ist allez ein bilde. Wirt daz ingesigel gedrücket genzlîche durch daz wahs, daz des wahses niht überblîbet, ez ensî zemâle gedrücket in daz ingesigel, sô ist ez ein mit dem ingesigel âne underscheit [1]. Alsô wirt diu sêle genzlîche mit gote vereinet an dem bilde und an der glîchnisse, als si in rüeret an rehter bekantnisse. Sant Augustînus sprichet, daz diu sêle alsô edel ist und alsô hôhe ist geschaffen über alle crêatûre, daz kein vergenclich dinc, daz an dem jüngesten tage vergân sol, in die sêle gesprechen enmac noch würken âne underscheit und âne boten. Daz sint diu ougen und diu ôren und die vünf sinne: daz sint die stîge, dâ diu sêle ûzgât in die werlt, und in den stîgen gât diu werlt wider ze der sêle. Ein meister (1) sprichet, daz »die krefte der sêle mit grôzer vruht wider süln loufen ze der sêle«; als sie ûzgânt, sô bringent sie ie etwaz wider în. Dar umbe sol der mensche vlîziclîchen behüeten sîniu ougen, daz sie iht înbringen, daz der sêle schedelich sî. Ich bin des gewis: swaz der guote mensche sihet, des wirt er gebezzert. Sihet er bœsiu dinc, er danket gote, daz er in dâ vor bewart hât und bitet vür jenen, daz in got bekêre, an dem ez ist. Sihet er guotiu dinc, des gert er, daz ez an im volbrâht werde.

  Mit den obersten Kräften berührt die Seele Gott; dadurch wird sie nach Gott gebildet. Gott ist nach sich selber gebildet und hat sein Bild von sich selber und von niemandem sonst. Sein Bild ist, daß er sich durch und durch erkennt und nichts als Licht ist. Wenn die Seele ihn berührt mit rechter Erkenntnis, so ist sie ihm in diesem Bilde gleich. Drückt man ein Siegel in grünes Wachs oder in rotes oder in ein Tuch, so entsteht (darauf) allemal ein Bild. Wird (aber) das Siegel völlig durch das Wachs durchgedrückt, so daß kein Wachs mehr übrigbleibt, das nicht vom Siegel durchprägt wäre, so ist es (= das Wachs) unterschiedslos eins mit dem Siegel [1]. Ebenso wird die Seele gänzlich mit Gott in dem Bilde und in der Gleichheit vereint, wenn sie ihn in rechter Erkenntnis berührt. Sankt Augustinus sagt, die Seele sei so edel und so hoch über aller Kreatur geschaffen, daß kein vergängliches Ding, das am jüngsten Tage vergehen wird, in die Seele zu sprechen noch zu wirken vermag ohne Vermittlung und ohne Boten. Die aber sind die Augen und die Ohren und die fünf Sinne: die sind die 'Stege', auf denen die Seele ausgeht in die Welt, und auf diesen Stegen geht die Welt wiederum zur Seele. Ein Meister (1) sagt, daß »die Kräfte der Seele mit großem Gewinn zur Seele wieder zurücklaufen sollen«; wenn sie ausgehen, so bringen sie stets etwas wieder ein. Darum soll der Mensch seine Augen mit Fleiß behüten, daß sie nichts einbringen, was der Seele schädlich sei. Ich bin des gewiß: Was immer der gute Mensch sieht, davon wird er gebessert. Sieht er böse Dinge, so dankt er Gott (dafür), daß er ihn davor behütet hat, und bittet für jenen, in dem das Böse ist, daß Gott ihn bekehre. Sieht er (aber) Gutes, so begehrt er, es möchte an ihm (selbst) vollbracht werden.

  Diz sehen sol zwivalt sîn: daz man abetuo, daz schedelich sî, und daz wir zuobüezen, des uns gebrichet. Ich hân ez ouch mê gesprochen (2): die vil vastent und vil wachent und grôziu werk tuont und niht enbezzernt ir gebrechen und ir site, dâ daz wâre zuonemen ane liget, die triegent sich selben und sint des tiuvels spot. Ein man der hâte einen igel, dâ wart er rîche von. Er wonte bî dem sêwe. Swenne der igel pruofte, wâ sich der wint hine kêrte, dâ bôzte er sîne hût und kêrte sînen rücken dâ hine. Sô gienc der man ze dem sêwe und sprach ze in: waz wöltet ir mir geben, daz ich iuch wîse, wâ sich der wint hine kêre? und verkoufte den wint und wart dâ von rîche (3). Alsô würde der mensche wærlîche rîche an tugenden, daz er prüefte, dâ er allerkrenkest ane wære, daz er dâ zuobüezte und daz er sînen vlîz dâ zuo kêrte, daz er daz überwünde.

  Dieses "Sehen" soll auf zweierlei gerichtet sein: darauf, daß man ablege, was schädlich ist, und daß wir ergänzen, woran es uns gebricht. Ich habe es auch sonst schon gesagt (2): Die viel fasten und viel wachen und große Werke verrichten, ihre Mängel aber und ihren Wandel nicht bessern, worin allein das wahre Zunehmen liegt, die betrügen sich selbst und sind des Teufels Spott. Ein Mann hatte einen Igel, durch den wurde er reich. Er wohnte nahe am Meer. Wenn der Igel merkte, wohin sich der Wind kehrte, sträubte er sein Fell und kehrte seinen Rücken dorthin. Da ging der Mann ans Meer und sprach zu den Schiffern: "Was wollt ihr mir geben dafür, daß ich euch anzeige, wohin der Wind sich kehre ?", und verkaufte (so) den Wind und wurde dadurch reich (3). So auch wurde der Mensch wahrlich reich an Tugenden, wenn er prüfte, worin er am schwächsten wäre, auf daß er dafür Besserung schüfe und daß er seinen Fleiß daran kehrte, dies zu überwinden.

  Daz hât vlîziclîche getân sant Elizabêt. Si hâte wîslîche besehen die stîge irs hûses. Dar umbe envorhte si den winter niht, wan ir gesinde was zwivalt gekleidet. Wan swaz ir geschaden mohte, dâ hâte si ir huote vor. Swâ ez ir gebrach, dâ kêrte si irn vlîz dar, daz ez volkomen wart. Dar umbe enhât si ir brôt niht müezic gezzen. Si hâte ouch ir obersten krefte ze unserm gote gekêret. Der hœhsten krefte der sêle der sint drî: diu êrste ist bekantnisse, diu ander }irascibilis%, daz ist ein ûfkriegendiu kraft; daz dritte ist der wille (4). Swenne sich diu sêle ziuhet an die bekantnisse der rehten wârheit, an die einvaltige kraft, dâ man got ane bekennet, dâ heizet diu sêle ein lieht. Und got ist ouch ein lieht; und swenne sich daz götlîche lieht giuzet in die sêle, sô wirt diu sêle mit got vereinet als ein lieht mit liehte; sô heizet ez ein lieht des glouben, und daz ist ein götlîchiu tugent. Und dar diu sêle mit irn sinnen noch kreften niht komen enmac, dâ treget sie der gloube hine.

  Das nun hat emsig Sankt Elisabeth getan. 'Sie hatte weislich 'auf die Stege ihres Hauses ihr Augenmerk gerichtet'. Darum 'fürchtete sie den Winter nicht, denn ihr Gesinde war zwiefach gekleidet' (Spr. 31,21). Denn, was immer ihr hätte schaden können, davor war sie auf der Hut; worin es ihr (aber) gebrach, da wandte sie ihren Fleiß darauf, daß es vollkommen ward. Darum hat sie ihr Brot nicht müßig gegessen. Sie hatte auch ihre obersten Kräfte unserm Gott zugekehrt. Der höchsten Kräfte der Seele sind drei: die erste ist Erkenntnis, die zweite irascibilis, das ist eine aufstrebende Kraft; die dritte ist der Wille (4). Wenn die Seele sich der Erkenntnis der rechten Wahrheit hingibt, der einfaltigen Kraft, in der man Gott erkennt, dann heißt die Seele ein Licht. Und auch Gott ist ein Licht; und wenn das göttliche Licht sich in die Seele gießt, so wird die Seele mit Gott vereint wie ein Licht mit dem Lichte; dann heißt es ein Licht des Glaubens, und das ist eine göttliche Tugend. Und wohin die Seele mit ihren Sinnen und Kräften nicht kommen kann, da trägt sie der Glaube hin.

  Daz ander ist diu ûfkriegende kraft, der werk ist daz eigenlîche, daz si ûfkriegende ist. Als dem ougen daz eigen ist, daz ez sehe gestaltnisse und varwe, und dem ôren daz eigen ist, daz ez hœre süeze lûte und stimme, alsô ist der sêle ein eigen werk, daz si an der kraft âne underlâz ûfkriegende ist; und sihet si bî sîten, sô vellet si an hôchmuot, daz ist sünde. Si enmac niht gelîden, daz iht ob ir sî. Ich wæne, si joch niht gelîden enmüge, daz got ob ir sî; er ensî in ir und si enhabe ez als guot als er selber, sô enmac si niemer geruowen. An dirre kaft wirt got begriffen an der sêle als verre, als ez der crêatûre mügelich ist, und sô heizet ez ein hoffenunge, daz ist ouch ein götlîchiu tugent. An der hât diu sêle sô grôzen zuoverla~z ze gote, daz sie dünket, daz got in allen sînem wesene niht enhabe, ez ensî ir mügelich ze enpfâhenne. Her Salomôn sprichet, daz verstolne wazzer süezer sîn dan ander wazzer. Sant Augustînus sprichet: die birn wâren mir süezer, die ich verstal, dan die mir mîn muoter koufte, dar umbe, daz sie mir verboten und beslozzen wâren. Alsô ist der sêle vil süezer diu gnâde, die si erkrieget mit sunderlîcher wîsheit und vlîze, dan die allen liuten gemeine ist.

  Die zweite ist die aufstrebende Kraft, deren Werk es recht eigentlich ist, daß sie nach oben strebt. So wie es dem Auge eigen ist, Gestalten und Farben zu sehen, und es dem Ohr eigen ist, süße Laute und Stimmen zu hören, so ist es der Seele eigen, mit dieser Kraft unablässig aufzustreben; sieht sie aber beiseite, so verfällt sie dem Hochmut, das (aber) ist Sünde. Sie kann nicht ertragen, daß irgend etwas über ihr sei. Ich glaube, sie kann sogar nicht ertragen, daß Gott über ihr sei; wenn er nicht in ihr ist und sie's nicht ebensogut hat wie er selbst, so kann sie nimmer zur Ruhe kommen. In dieser Kraft wird Gott in der Seele ergriffen, soweit es (überhaupt) der Kreatur möglich ist, und im Hinblick darauf spricht man von der Hoffnung, die auch eine göttliche Tugend ist. In der hat die Seele so große Zuversicht zu Gott, daß es sie dünkt, Gott habe in seinem ganzen Sein nichts, das zu empfangen ihr nicht (auch) möglich wäre. Herr Salomon sagt, daß 'gestohlenes Wasser süßer' sei als anderes Wasser (Spr. 9,17). Sankt Augustinus sagt: Die Birnen waren mir süßer, die ich stahl, als die mir meine Mutter kaufte, eben weil sie mir verboten und (vor mir) verschlossen waren. So auch ist der Seele die Gnade viel süßer, die sie mit besonderer Weisheit und Beflissenheit erringt, als die, welche allen Leuten gemein ist.

  Diu dritte kraft daz ist der inwendige wille, der als ein antlütze alle zît ze gote gekêret ist in götlîchen willen und schepfet von gote die minne in sich. Dâ wirt got gezogen durch die sêle und diu sêle wirt gezogen durch got und heizet ez ein götlîchiu minne, und daz ist ouch ein götlîchiu tugent. Götlîchiu sælicheit liget an drin dingen: daz ist an bekantnisse, daz er sich selben endelîche bekennet, daz ander vrîheit, daz er unbegriffen und unbetwungen blîbet von aller sîner crêatûre, und an volkomener genüegede, daz er sich selben und aller crêatûre genüeget. Dar ane liget ouch der sêle volkomenheit: an bekantnisse und an begrîfenne, daz si got begriffen hât, und an vereinunge volkomener minne. Wellen wir wizzen, waz sünde ist? Daz abekêren von der sælicheit und von der tugent, dâ von kumet alliu sünde. Dise stîge sol ouch besehen ein ieglîchiu sæligiu sêle. Dar umbe envürhtet si den winter niht, wan ir gesinde ouch gekleidet ist mit zwivalten kleidern, als diu schrift von ir sprichet. Si was gekleidet mit der sterke ze widerstânne aller unvolkomenheit, und was gezieret mit der wârheit. Disiu vrouwe was in rîchtuome und in êren ûzwendic gegen der werlt, und inwendic anebetete si wâr armüete. Und dô ir der ûzwendic trôst abegienc, dô vlôch si, ze dem alle crêatûren vliehent, und versmâhte die werlt und sich selben. Dâ mite kam si über sich selben und versmâhte, daz man sie versmâhte, alsô daz si sich dâ mite niht enbewar und daz si ir volkomenheit dar umbe niht enliez. Si gerte des, daz si sieche und unvlætige liute waschen und handeln müeste mit einem reinen herzen.
  Daz wir alsus umbeliuhten die stîge unsers hûses und unser brôt niht müezic ezzen, des helfe uns got. âmen.

  Die dritte Kraft, das ist der innere Wille, der wie ein Antlitz allzeit Gott zugekehrt ist in göttlichen Willen und aus Gott die Liebe in sich schöpft. Da wird Gott durch die Seele gezogen, und die Seele wird gezogen durch Gott, und das heißt eine göttliche Liebe, und auch das ist eine göttliche Tugend. Gottes Seligkeit ist gelegen an drei Dingen, und zwar: an der Erkenntnis, mit der er (= Gott) sich selbst vollends erkennt; zum zweiten an der Freiheit, in der er unbegriffen und uneingeschränkt von seiner ganzen Schöpfung bleibt, und (schließlich) am vollkommenen Genügen, in dem er sich selbst und aller Kreatur genügt. Daran nun auch ist der Seele Vollkommenheit gelegen: an der Erkenntnis und am Begreifen, daß sie Gott ergriffen hat, und an der Vereinigung in vollkommener Liebe. Wollen wir wissen, was Sünde sei? Die Abkehr von der Seligkeit und von der Tugend, davon kommt alle Sünde. Diese 'Stege' soll auch eine jegliche vollkommene Seele im Auge behalten. Darum fürchtet sie den Winter nicht, weil ihr Gesinde auch gekleidet ist mit zwiefachen Kleidern, wie die Schrift von ihr (= Elisabeth) sagt. Sie war bekleidet mit Stärke, aller Unvollkommenheit zu widerstehen, und war geziert mit der Wahrheit (Spr. 31,25. 26). Diese Frau war nach außen vor der Welt im Reichtum und in Ehren, inwendig aber betete sie wahre Armut an. Und als ihr der äußere Trost abging, da floh sie zu ihm, zu dem alle Kreaturen fliehen, und verachtete die Welt und sich selbst. Damit kam sie über sich selbst und verachtete es, daß man sie verachtete, so, daß sie sich darüber nicht bekümmerte und ihre Vollkommenheit darum nicht aufgab. Sie begehrte danach, kranke und schmutzige Menschen waschen und pflegen zu dürfen mit reinem Herzen.
  Daß auch wir ebenso die Stege unseres Hauses ableuchten und unser Brot nicht müßig essen, dazu helfe uns Gott. Amen.

Anmerkungen Quint
1 Der Meister ist Avicenna, vgl. In Gen. I n. 237, LW 1 S. 382,2 f. [S. 138, Anm. 2].
2 Der Rv. .. dürfte sich auf die .. Stelle [154,6 ff.] der Pr. 33 sowie auf die folgende Stelle beziehen: DW 5 S. 244,5f. [S. 139, Anm. 3].
3 Dasselbe Igel-Exempel findet sich In Joh. n. 270, LW 3 S. 227,6 ff. [S. 140, Anm. 1]: "Hierher gehört auch, daß der Hahn und die Krähe sofort den Beginn eines Wetterumschlages merken, und wenn ihr körperliches Befinden sich ändert, dann lassen sie ihre Stimme erschallen, wie auch die Menschen, besonders die Kranken, bei der Änderung ihres Befindens in Stöhnen, Seufzer oder Klagen ausbrechen. Hierher gehört das Beispiel, welches Avicenna in seiner Tierkunde erzählt: 'die Igel spüren den Nord- und Südwind, bevor er sich erhebt, und verstecken sich zwischen Felsen, um nicht vom Wind getroffen zu werden. Bei Konstantinopel lebte einmal ein Mann, der einen Igel besaß, und sagte mit seiner Hilfe die Winde voraus und ward durch ihn reich'. Soweit Avicenna".
4 Die genaueste deutsche Parallele zur vorliegenden Stelle mit der Zuordnung der drei Kräfte zu den drei göttlichen Tugenden findet sich .. S. 168,1 ff. [Pr. 34] [S. 142, Anm. 3 v. S. 141].

Eigene
1 Diesen Siegel-Wachs-Vergleich gibt es in dieser Form nur hier, auch wenn Quint auf einige "Parallelstellen" hinweist (s. DW 5 S. 101 Anm. 201), in denen jedoch nur von Siegel oder Wachs gesprochen wird wie z.B. im BgT (n. 72).

  1 Der mittelhochdeutsche Text und die Anmerkungen Quints (in runden Klammern) entsprechen dem Abdruck in: "Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die deutschen Werke 2, Kohlhammer Stuttgart 1971, S. 132-147" ergänzt um die Nachträge S. 926.
  Die Anmerkungen sind fortlaufend beziffert. Im Original wird auf jeder Seite neu gezählt. Hier ist nur ein Bruchteil der Anmerkungen wiedergegeben. Eigene Anmerkungen sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.
  Der nhdt. Text ist dem Band "Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, München, Hanser, 5.1978, S. 295-298" entnommen, die mit der Übersetzung in DW 2, S. 661-663 bis auf geringfügige Änderungen übereinstimmt, aber zusätzlich Zeilenangaben aufweist. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Quints in Klammern sind etwas (eingerückt) und die dort kursiv gesetzten Stellen werden hier in Farbe dargestellt (s. Hilfe).

Bearbeitung
Textausgabe: Strauch, Nr. 34, S. 77-79.
Edition: Quint, DW 2, S. 126-147.
Übersetzungen: Schulze-Maizier S. 240 ff., Quint, S. 295-298 (vgl. Bibliographie).
Literatur: s. Predigten.

Textbestand-Diagramm (chronologisch)
  Das Diagramm zeigt die Verteilung der Textmengen in den Hss. Die obere Zahlenreihe entspricht den Seiten 132 bis 147 der DW-Edition mit der jeweiligen Anzahl der Zeilen (addiert; in der Ed. wird auf jeder Seite neu gezählt).


Maßstab: 3 : 1 (3 Pixel = 1 Zeile)

Handschriften (chronologisch)

Hs.DatumMundartHerkunftTextbestand
K1a1341lat. + md. m. rheinfr. Ein.Otterberg, Zisterzienser 132,1 Consideravit - 137,1 bekantnisse 1
Ka1Mitte 14.alem.vermutl. Raum Straßburg, Dominikaner 139,1 Diz - 4 spot.
Ka2Mitte 14.nd.alem. (md. u. hochalem. Einfl.)vermutl. Raum Straßburg, Dominikaner 2
Wo1Mitte 14.mitteldt.? vollständig
O(Mitte) 14.md. mit rheinfränk. EinschlagMainz, Kartäuser vollständig
H2Mitte / 2. H. 14.westmd.-rheinfränk.Ort? Katharinenkloster ? vollständig
N9hier: 2. H. 14.bair.? 139,2-4 + 141,5-142,4 + 143,1-2+5-7 +144,5-145,3 + 7-146,2
Str114.vermutl. alem.-elsäss.? vollständig
G914./15. (um 1400)oberalem. (bair. Einfl.)St. Gallen, Dominikanerinnen 138,5 Ich - 8 werde 3
Z4frühes 15.alem.vermutl. Töß, Dominikanerinnen 138,5 Ich - 8 werde + 142,4 Und - 5 hine + 145,4 Götlîchiu - 146,1 minne 3
Lo41430/40md., thür.? vollständig
Str31440ostschwäb.vermutl. Augsburg vollständig m. Plusstücken
Me31440-55bair.Melk, Benediktiner ~ 134,2-5 + 135,7 + 136,1-2 + 142,2-5 + 143,7-144,2+3-7
Me2um 1450bair.Melk, Benediktiner ~ 132,2f. + 134,2-5 + 134,5-135,1+7 + 136,1-2 + 142,2-5 + 143,7-144,2 + 144,3-7 + 145,1-6 4
Mai11450ostschwäb.Kirchheim / Ries, Zisterzienserinnen vollständig
M7Mitte 15.oberalem.St. Gallen, Dominikanerinnen 138,5 Ich - 8 werde 3
S3Mitte 15.bair.-österr.Salzburg, Benediktinerinnen 141,5 Der - 144,2 enpfâhenne. + 145,1 Diu - 3 got 5
Str915. (1458?)schwäb.Buxheim, Kartäuser 133,1 diu sêle - 138,2 sêle + 141,5 Der - 145,4 tugent 6
Do11457-60schwäb.Buxheim, Kartäuser ? 133,1 sêle - 138,2 sêle 6
St615.schwäb.? 132,1 Consideravit - 137,1 bekantnisse 1
W11840-55Fr. PfeifferWien 7

1 Als Bestandteil einer Predigt des Nikolaus von Landau
2 Nicht in DW, Textbestand entspricht vermutlich Ka1
3 G9, M7, Z4 tradieren den Text der Compilatio mystica
4 Textstücke aus Pf., Tr. 3, S. 406,28 wan - 407,5 ist
5 stark abweichender Text
6 Do1, Str9: aus dem 'Spiegel der Seele' (vgl. Vogl)
7 nur der lateinische Vorspruch im Inhaltsverzeichnis

Beschreibung
  Die Predigt ist in den Paradisus-Hss. O und H2 sowie in fünf Hss. (Lo4 [Quint noch nicht bekannt], Mai1, Str1, Str3 und Wo1) vollständig und in 13 Hss. fragmentarisch überliefert, von denen Str9 den größten Textumfang aufweist. Textstücke wurden verwendet in der Compilatio mystica (G9, M7 und Z4), dem 'Spiegel der Seele' (Do1, Str9) und in einer Predigt des Nikolaus von Landau (K1a und St6). Die Hs. Ka2 wird von Quint nicht erwähnt, obwohl sie den laut Spamer im ganzen besseren Text bietet. Durch die Paradisus-Hss. und M7 / Z4 sowie Str1 ist die Predigt für Meister Eckhart bezeugt.

Datierung
  Die Predigt ist der einzige Text Eckharts, in dem auf Elizabeth von Thüringen Bezug genommen wird.
  Der Text weist vielfach Parallelen zu den deutschen Predigten, manchmal zu einigen Sermones, an wenigen Stellen zu den Reden, zum Trostbuch und dem Johannes-Kommentar auf, aber keine (zumindest nicht in den Anmerkungen Quints) zu den anderen lateinischen Kommentaren oder zu den Vorreden zum Opus Tripartitum. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Predigt vor Abfassung der ersten Kommentare und vor dem 1. Pariser Magisterium (also vor 1300) gehalten wurde. Unterstützt wird die Annahme der in Erfurt entstandenen und gehaltenen Predigt durch die Hs. Wo1, die als möglicherweise frühester Textzeuge den Text in mitteldeutscher Schriftsprache vollständig überliefert.
  Hinweise auf eine spätere Abfassung (Straßburg, Köln) sind nicht ersichtlich.