Predigt 37 1

p37

meister Eckart bewisit hi wilich der man si in der sele und wilche wiz he sterbe und wilich di swene sune sin der widewin, von den si clagit man wolle si ir nemen [Strauch, S. 2].

Zum mittelhochdeutschen Text der Strauchschen Edition bei Nils Gülberg im Internet.

man
kneht
zwêne süne

Vir meus servus tuus mortuus est
(4 Reg. 4,1)


  Eine Frau sprach zum Propheten: "Herr, mein Mann, dein Knecht, ist tot. Nun kommen die, denen wir schulden, und nehmen meine beiden Söhne und machen die dienstbar für ihre Schuld; ich (aber) habe nichts als ein wenig Öl". Der Prophet sprach: "So entleih leere Gefäße und gieß in jedes ein weniges hinein; das wird wachsen und zunehmen. Verkaufe das und begleiche deine Schuld und löse deine beiden Söhne aus. Was übrigbleibt, davon ernähre dich und deine beiden Söhne!" (4 Kö. 4,1-4 u. 7) (1).

man

  Das Fünklein der Vernunft, das ist das Haupt in der Seele (2, s. 38, 43, 45), das heißt der 'Mann' der Seele (3, Rv 20b, 18, 43, s. 40, Vom edlen Menschen) und ist so etwas wie ein Fünklein göttlicher Natur, ein göttliches Licht, ein Strahl und ein eingeprägtes Bild göttlicher Natur. Wir lesen von einer Frau, die heischte eine Gabe von Christus (Joh. 4,7 u. 15). Die erste Gabe, die Gott gibt, das ist der Heilige Geist; in dem gibt Gott alle seine Gaben: das ist 'das lebendige Wasser [1, s. 43]. Wem ich das gebe, den dürstet nimmermehr' (Joh. 4,10 u. 13). Dieses Wasser ist Gnade und Licht und entspringt in der Seele und entspringt drinnen und dringt empor und 'springt (hinüber) in die Ewigkeit'. (Joh. 4,14) 'Da sprach die Frau: "Herr, gib mir von diesem Wasser!" (Joh. 4,15). Da sprach unser Herr: "Bring mir deinen Mann!" (Joh. 4,16). Da sprach sie: "Herr, ich habe keinen". (4)
  Da sprach unser Herr: "Du hast recht: du hast keinen; du hast (ihrer) aber fünf gehabt; der jedoch, den du jetzt hast, der ist nicht dein" (Joh. 4,17 f.). Sankt Augustinus sagt: Warum sprach unser Herr: »'Du hast recht'? Er will sagen: Die fünf Männer, das sind die fünf Sinne; die haben dich in deiner Jugend ganz nach ihrem Willen und ihrem Gelüst besessen. Nun hast du einen in deinem Alter, der aber ist nicht dein: das ist die Vernunft, der folgst du nicht«. Wenn dieser 'Mann' tot ist, so steht es übel. Wenn die Seele von dem Leibe scheidet, so tut das gar weh; wenn aber Gott sich von der Seele scheidet, so tut das maßlos weh. So wie die Seele dem Leibe das Leben gibt, so gibt Gott der Seele das Leben. So wie die Seele sich in alle Glieder ergießt, so fließt Gott in alle Kräfte der Seele und durchströmt sie so, daß sie dies(en Strom) (= Gott) in Güte und Liebe weitergießen auf alles, was in ihrem Bereich ist, damit es alles seiner gewahr werde. So fließt er allzeit, das heißt oberhalb der Zeit, in der Ewigkeit und in jenem Leben, darin alle Dinge leben. Darum sprach unser Herr zu der Frau: 'Ich gebe das lebendige Wasser; wer davon trinkt, den dürstet nimmermehr, und er lebt im ewigen Leben' (Joh. 4,13 f.).


kneht

  Nun spricht die Frau: 'Herr, mein Mann, dein Knecht, ist tot'. 'Knecht' besagt soviel wie: einer, der da für seinen Herrn (etwas) empfängt und bewahrt. Behielte er's für sich, so wäre er ein Dieb. Die Vernunft ist im eigentlicheren Sinne 'Knecht' (5, Rv 20b) als der Wille oder die Liebe. Wille und Liebe richten sich auf Gott (nur), insofern er gut ist (6, Rv 23), und wäre er nicht gut, so würden sie seiner nicht achten. Vernunft aber dringt hinauf in das Sein, ehe sie (noch) an Gutheit oder Macht oder Weisheit oder sonst etwas, das akzidentell ist [2], denkt. Was Gott beigelegt ist, daran kehrt sie sich nicht; sie nimmt ihn in sich (= in seinem Selbst); sie versinkt in das Sein und nimmt Gott, wie er lauteres Sein ist. Und wäre er nicht weise noch gut noch gerecht, sie nähme ihn doch so, wie er reines Sein ist. Hierin gleicht die Vernunft der obersten Herrschaft der Engel, die die drei Chöre umfassen: Die Throne nehmen Gott in sich auf und bewahren Gott in sich, und Gott ruht in ihnen; die Cherubim erkennen Gott und beharren dabei; die Seraphim sind "der Brand" (7, Rv 19). Diesen (Engelchören) gleicht die Vernunft und bewahrt Gott in sich. Mit diesen Engeln erfaßt die Vernunft Gott in seiner Kleiderkammer, nackt, wie er unterschiedslos Eines ist.


zwêne süne

  Nun spricht die Frau: 'Herr, mein Mann, dein Knecht, ist tot. Sie, denen wir schulden, kommen und nehmen meine beiden Söhne weg' (4 Kö. 4,1). Wer sind die 'beiden Söhne' der Seele? Sankt Augustinus sagt - und mit ihm ein anderer, heidnischer Meister - von zwei Antlitzen der Seele. Das eine ist dieser Welt zugekehrt und dem Leibe; in ihm wirkt sie Tugend und Kunst und heiligmäßiges Leben. Das andere Antlitz ist geradewegs Gott zugekehrt; in ihm ist ununterbrochen göttliches Licht und wirkt darin, wenngleich sie (= die Seele) deshalb nicht darum weiß, weil sie nicht daheim ist. Wird das Fünklein der Seele rein in Gott erfaßt, so lebt der 'Mann'. Dort geschieht die Geburt, dort wird der Sohn geboren. Diese Geburt geschieht nicht einmal im Jahr noch einmal im Monat noch einmal im Tage, sondern allzeit, das heißt oberhalb der Zeit in der Weite, wo weder Hier noch Nun ist (8, Rv 19), weder Natur noch Gedanke. Darum sagen wir "Sohn" und nicht "Tochter".
  Nun wollen wir von den 'zwei Söhnen' in einem andern Sinne sprechen, das heißt: (als) von Erkenntnis und Willen. Die Erkenntnis bricht als erste aus der Vernunft, und danach geht der Wille aus ihnen beiden aus. Darüber nichts weiter!
  Wieder in einem andern Sinne wollen wir von den 'zwei Söhnen' der Vernunft sprechen. Der eine ist die "Möglichkeit" (= die mögliche Vernunft), der andere ist die "Tätigkeit" (= die tätige Vernunft). Nun sagt ein heidnischer Meister (9): »Die Seele hat in dieser Kraft (d.h. in der "möglichen" Vernunft) das Vermögen, geistig alles zu werden«. In der wirkenden Kraft gleicht sie dem Vater und wirkt alles zu einem neuen Sein. Gott hätte die Natur aller Kreaturen in sie eindrücken wollen; nun aber war sie noch nicht vor der Welt. Gott hat diese ganze Welt geistig geschaffen in einem jeglichen Engel, ehe diese Welt in sich selbst geschaffen wurde. Der Engel hat zweierlei Erkenntnis. Die eine ist ein Morgenlicht, die andere ist ein Abendlicht. Das Morgenlicht besteht darin, daß er (= der Engel) alle Dinge in Gott sieht. Das Abendlicht (hingegen) besteht darin, daß er alle Dinge in seinem natürlichen Licht sieht. Ginge er aus in die Dinge, so würde es Nacht. Nun aber bleibt er innen, darum heißt es ein Abendlicht. Wir sagen, daß die Engel sich freuen, wenn der Mensch ein gutes Werk tut. Unsere Meister stellen die Frage, ob die Engel betrübt werden, wenn der Mensch Sünde tut? Wir sagen: Nein! denn sie schauen in die Gerechtigkeit Gottes und nehmen darin alle Dinge in ihm (= in Gott), wie sie in Gott sind. Deshalb können sie sich nicht betrüben. Nun gleicht die Vernunft in der "möglichen" Kraft dem natürlichen Licht der Engel, welches das Abendlicht ist. Mit der "wirkenden" Kraft (aber) trägt sie alle Dinge hinauf in Gott, und sie ist alle Dinge in diesem Morgenlicht.
  Nun spricht die Frau: 'Sie kommen, denen wir schulden, und nehmen meine beiden Söhne in ihren Dienst'. Der Prophet aber spricht: 'Entleihe leere Gefäße ringsum bei deinen Nachbaren' (4 Kö. 4,7). Diese 'Nachbaren', das sind alle Kreaturen und die fünf Sinne und alle Kräfte der Seele - die Seele hat viele Kräfte in sich, die gar verborgen wirken und auch die Engel. Von allen diesen 'Nachbaren' sollst du 'leere Gefäße entleihen'.
  Daß wir viele 'leere Gefäße entleihen' und alle gefüllt werden mögen mit göttlicher Weisheit, auf daß wir damit unsere 'Schuld begleichen' können und ewig von dem leben, 'was übrigbleibt', dazu helfe uns Gott. Amen.

Anmerkungen Quint
1 Der ganze Schrifttext ist in OH2 weggelassen. Ich habe ihn im Wortlaut von Str1 (Pf.) geboten [S. 210, Anm. 1].
2 Rv. von Pr. 38 [DW 2, S. 227.230.210 je Anm. 1] (s. dort auch eigene Anm. 2).
3 Pahncke Diss. S. 33 bezieht den Rv. (von 20b - s. nächste Anm.) auf (diese Predigt) [DW 1, S. 351, Anm. 4] (Den 'Mann in der Seele' finde ich in den übersetzten Predigten sonst nur noch in Pr. 18, wo es heißt: "Vernunft, das ist der Mann in der Seele" - Einen " 'Mann' in der Seele" gibt es in P. 43. Siehe auch P. 20b, Eigene 5).
4 Der Rv. aus 20a bezieht sich wohl auf die obige Stelle (s.a. zu Pr. 20b) [DW 1, S. 337, Anm. 3] (Von den gegebenen Terminen her ist das nicht möglich).
5 Wie ich (Pr. 20b, DW 1, S. 347 Anm. 6) gesagt habe, dürfte sich der Rv. von dem ich mê gesprochen hân auf diese Stelle .. zurückbeziehen [S. 216, Anm. 3].
6 Wie ich .. gesagt habe, wird sich der Rv (Pr. 23) u.a. wohl auf die vorliegende Predigtstelle beziehen [S. 216, Anm. 4].
7 .. und dort (Pr. 19, DW 1, S. 317 Anm. 2), wo gesagt ist, daß sich der Rv. "vielleicht" - ich möchte jetzt sagen "ziemlich sicher" - auf die obigen Ausführungen .. bezieht, denn diese Predigt dürfte am Dienstag nach dem dritten Fastensonntag .., Pr. 19 am Donnerstag derselben Woche .. gehalten worden sein [S. 217, Anm. 1].
8 Entgegen der (in Pr. 19, DW 1, S. 316 Anm. 4) geäußerten Vermutung, daß sich der Rv. dort Z. 5 als ich nû sprach auf dort Z. 2f. beziehen könnte, möchte ich glauben, daß er sich vielmehr (hierauf) bezieht [S. 219, Anm. 5].
9 Der Meister ist Avicenna [S. 220, Anm. 2].

Eigene
1 Den Ausdruck das lebendige Wasser finde ich in den übersetzten Predigten nur noch in P. 43.
2 In der Edition steht: "daz zuovellic ist". Warum übersetzt Quint nicht mit 'zufällig'?. Das 'akzidentiell' hätte er ja in Klammern hinzufügen können.

  Die Übersetzung und die Anmerkungen Quints entsprechen dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die deutschen Werke, Kohlhammer Stuttgart 1971, S. 676-678. Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Quints in () sind etwas eingerückt. Die Anmerkungen zur Übersetzung in () sowie meine Anmerkungen in [] sind fortlaufend beziffert. Im Original wird auf jeder Seite neu gezählt. (Hier ist nur ein Bruchteil seiner Anmerkungen wiedergegeben). Die dort kursiv gedruckten Stellen sind hier in normaler Schrift wiedergegeben.
  Die Zwischenüberschriften Quints entnehme ich DW II, S. 209.
  Zur farblichen Gestaltung s. Darbietung.

Edition
  Pfeiffer, Nr. XXXI S. 109-111.
  Strauch, Nr. 21 S. 50-52.
  Quint, DW 2, S. 205-223.
  Übersetzung: Quint S. 392ff.

Beschreibung
  "Der Text ist in sechs Hss. ganz, in acht Hss. fragmentarisch überliefert. Die Predigt ist hsl. für Meister Eckhart bezeugt" [Largier, S. 993] (Zu den Hss. s. Predigten).
  "Die Predigt hat enge Beziehungen zur als echt erwiesenen Predigt 26". "Überdies aber stimmt die vorliegende Predigt in vielen Einzelausführungen mit echten lateinischen und deutschen Texten überein".
  "Der Aufbau der Predigt erfolgt hier .. deutlich nach dem Muster der Homilie, d. h. im engen Anschluß an den Schrifttext, dessen einzelnen Bestandteile nacheinander exegesiert werden" [DW II, S. 209].

Datierung
  Theisen datiert die Predigt auf den 25. Februar 1326, wo sie im Rahmen einer Fastenpredigtreihe gehalten worden sein soll (s. Pr. 38, Datierung) [Theisen, S. 115-122]. Dazu paßt, das die beiden Rückverweise aus Predigt 19 (s. Anm. 7 und 8) von allen Rückverweisen am besten passen. Zum ersten Rv. sagt Eckhart "kürzlich" und zum zweiten "neulich", was zutrifft, wenn er diese Predigt zwei Tage nach Pr. 19 hielt.
  Der Rückverweis von Predigt 38 kann sich auch auf Predigt 45 oder eingeschränkt Pr. 43 beziehen und in den Predigten 20b und 23 sagt Eckhart selbst, daß er davon schon "mehrmals" bzw. "öfter" gesprochen habe. Weitere Hinweise liefert die Beschreibung (s.o.), da Theisen die Predigt 26 als drei Tage nach Predigt 37 gehalten vorschlägt.
  Gegen Köln könnte die Aufnahme in den Paradisus sprechen; das aber nur bedingt, da die Sammlung wahrscheinlich erst gegen 1340 zusammengestellt wurde und Steer bereits 1987 die Vermutung äußerte, daß die Sammlung nicht in Erfurt, sondern in Köln entstanden ist (s. Lit.). Abgesehen davon dürfte auch ein Erfurter Redaktor über eine Sammlung von Eckhart-Predigten aus Erfurt, Straßburg und Köln verfügt haben (s. a. Werk - Zur Datierung der Predigten).
  Lit.: G. Steer, Geistliche Prosa, in: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 1250-1370. 2. Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hg. von I. Glier, München 1987, (Anm. 1), S. 329-332