Expositio libri sapientiae 1

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Beschreibung
Datierung

Erstes Kapitel

Verse:   1b   5   7   13   14   15

Liebt die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet. (V. 1)

  In den ersten drei Absätzen nennt Eckhart fünf Eigenschaften, die für einen Richter notwendig sind:

Anzumerken ist erstens, daß ein Richter immer höherstehend und vollkommener sein muß als die, die er richtet.
Zweitens ist anzumerken, daß aufgrund des schon Gesagten ein Richter gerade sein und sich selbst zuerst richten muß.
Drittens richte er «mit Liebe zu den Menschen und mit Haß gegen die Laster». (alle n. 1)
Viertens mit Milde und der Verpflichtung zu Mitgefühl. (n. 2)
Fünftens ist anzumerken, daß er nicht nur gerecht und gerade sein soll, sondern auch ein die Gerechtigkeit Liebender. (n. 3)

  Im 2. Absatz verweist er auf seine neunte Abhandlung aus dem Werk der Thesen (s. Opus n. 4): "ut notavi in tractatu De natura superioris" (S. 324) und am Ende des 3. Absatzes auf eine ausführliche Behandlung des Themas im Zusammenhang mit Joh. 5,22: "De hoc notavi diffuse super illud: pater 'omne iudicium dedit filio', Ioh. 5" (S. 325). Ausführlich hat er sich dem Wort im Johanneskommentar n. 418-420 gewidmet; eine Predigt zum Thema (auf die er hier wohl eher anspielt) ist nicht bekannt. [29.9.06]

In der Einfachheit des Herzens suchet ihn. (V. 1)

  Diese Aussage wird in den folgenden 5 Absätzen (n. 4-8) behandelt. Eckhart eröffnet und schließt die Betrachtung jeweils mit einem Zitat von Augustinus (n. 4 und n. 8). Dazwischen führt er aus:

Hier ist anzumerken, daß, wie 'eines' und 'seiend' miteinander austauschbar sind, so auch Einfachheit und Geistigkeit. Die erste Wurzel und der Grund der Geistigkeit ist nämlich die Einfachheit. Der Beweis dafür ist folgender:
  Anm. Albert: Hinweis auf die Transzendentalienlehre, nach der «seiend» (ens), «eines» (unum), «wahr» (verum) und «gut» (bonum) untereinander austauschbar sind. (S. 151)
  Es folgen nun zwei Belege, deren zweiten Eckhart abschließt mit: "Intellectus autem verorum est", wozu Albert wiederum anmerkt: "Die Übersetzung von «intellectus» ist nicht leicht. Weder «Intellekt» noch «Verstand» noch «Vernunft» treffen das mit dem scholastischen Begriff Gemeinte, und «geistig schauende Erkenntniskraft» ist zu umständlich." (S. 151)
  Dann merkt Eckhart an, dass er sich dazu ausführlich bei der Behandlung von Matth. 11,27 (und im Buch der Fragen) geäußert habe: "Notavi de hoc diffuse super illo: 'nemo novit filium nisi pater'" (S. 328 f., n. 6). Bezug auf das Wort nimmt er in den Predigten Q 3, Q 16b, Q 26, Q 46 und im Sermo XL,1. Er fährt nun fort:

Es ist daraus einsichtig, daß du nichts anderes erstreben, nichts anderes suchen sollst, daß nichts anderes dich bewegen soll als Gott. (..) Wer nämlich etwas außerhalb von Gott oder neben Gott oder auch mit Gott etwas anderes sucht, denkt nicht gut über Gott. Nichts nämlich kann außerhalb von Gott sein, noch ist etwas anderes mit Gott besser, weder größer noch stärker. Sonst wäre er nicht das unendliche Gut. (n. 7) [30.9.06]

Es entzieht sich den Gedanken, die ohne Einsicht sind, der Heilige Geist. (V. 5)

Es ist anzumerken, daß das, was aus Leidenschaft geschieht und plötzlich, ohne vernünftige Überlegung und Entscheidung getan wird, nicht den Charakter des göttlichen oder des sittlich Guten oder der Tugend hat. (n. 9)
Dazu aber zweitens: Ein Gedanke ohne Einsicht ist jeder böse Gedanke oder über Böses oder über Vergangenes oder Zukünftiges oder über ein das Nichts, d.h. eine Verneinung einschließendes Seiendes. Das alles hat ja die Bedeutung des Nichtseienden oder des bloßen Schattens des Seienden. Der Gegenstand der Vernunft aber ist das Seiende. (n. 10)

  Hier setzt Eckhart zum ersten Mal das 'Böse' mit dem 'Nichts' in Beziehung, wie er es weiter unten (zum 'Tod') weiter ausformulieren wird. [30.9.06]

Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis, und das, was alles enthält, versteht jedes Sprechen. (V. 7)

  Seine Kommentierung des Satzes gliedert Eckhart in drei Teile: auf welche beiden Weisen die Aussage betrachtet werden kann und interpretiert sie jeweils und was die Glosse dazu sagt:

Es ist anzumerken, daß dieser Text auf zweifache Weise gegliedert und interpungiert werden kann. Erstens nämlich, wie entsprechend der allgemeinen Auffassung und Interpunktion aller folgendermaßen interpungiert wird: «Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis und das, was alles enthält», d.h. den Himmel. (..) Was aber folgt: «er versteht jedes Sprechen», ist ein neuer Versteil für sich. (n. 11)
Nach einer zweiten Weise wird der Text folgendermaßen gegliedert und interpungiert: «Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis», und dann folgt in einem neuen Versteil: «und das, was alles enthält, versteht jedes Sprechen», d.h. hat geistige Erkenntnis, gemäß dem Wort des Psalms (135,5): «der die Himmel mit geistiger Erkenntnis begabt schuf», gemäß einer Auslegung, die ich zu diesem Psalmwort angemerkt habe. (n. 12)

  In n. 13 referiert er die Glosse: "Gemeint ist die «Glossa ordinaria» des Anselm von Laon und seiner Schüler. Die kürzeren Glossen waren als «Glossa interlinearis» zwischen die einzelnen Zeilen des biblischen Textes geschrieben, die längeren als «Glossa marginalis» an den Rand" (Albert, S. 152).
  N. 12: "quam notavi super illo verbo Psalmi" (S. 332): Eckhart zitiert dieses Psalmwort auch in seinen Kommentaren zu Genesis und Genesis II wie hier, aber als Auslegung im Rahmen einer Predigt oder gar als eigenständiger Psalmenkommentar ist es nicht überliefert. [30.9.06]

Gott hat den Tod nicht gemacht, noch freut er sich am Untergang der Lebenden. (V. 13)

  Diesen Satz kommentiert Eckhart in den Absätzen n. 14 - 18. Da sich hier seine Sicht Gottes auf eine eindrucksvolle Weise zeigt, gebe ich den Kommentar vollständig wieder:

14 Man pflegt zu unterscheiden zwischen dem Übel der Schuld und dem Übel der Strafe und zu erörtern, welches aus diesen von Gott sei und in welcher Weise. Andererseits auch, welches aus diesen das größere Übel sei.
Hinsichtlich des vorliegenden Textes muß man folgendes wissen:
Erstens, daß, wie die Heiligen (d.h. die Kirchenlehrer) und die Philosophen übereinstimmend sagen und wie sich auch die Wahrheit verhält, das Übel nichts als Beraubtheit oder Abfall vom Sein und Schwund, Abwesenheit oder Mangel an Sein ist.
Daraus zeigt sich, daß das ein Mehr an Übel ist, was ein Mehr an Gutem raubt, und in der Wirklichkeit ist das schlechter, in dem ein größeres Gutes oder viel Gutes oder viel Sein verlorengeht, was dieses auch immer sei: Strafe oder Schuld, diese Strafe oder jene Strafe, diese oder jene Schuld. Ganz allgemein ist nämlich das, in dem ein höheres Sein verlorengeht oder mehr Seinsweisen, schlimmer als das andere.
15 Zweitens zeigt sich, daß «das Übel keine Ursache hat». Eine Ursache bezieht sich nämlich auf eine Wirkung, und jede Wirkung hat eine Ursache. Das Übel ist keine Wirkung (effectus), sondern ein Fehlen (defectus). Nach der Ursache des Übels zu fragen, ist fragen nach etwas, was keine Ursache hat, da es ja keine Wirkung ist, ja sogar gerade dadurch und dadurch allein ein Übel ist, daß es keine Wirkung ist und keine Ursache hat. Wenn es eine Ursache hätte, so wäre es ja eine Wirkung und kein Fehlen. Wer also nach der Ursache des Übels fragt, der fragt nach der Ursache des Nichtseienden und des Nichts. Daraus geht, kurz gesagt, hervor, was im Text gesagt wird: «Gott hat den Tod nicht gemacht» usw.
16 Wiederum ist es insbesondere bei Gott unmöglich, daß er die Ursache des Übels ist und den Tod oder eine andere Beraubtheit gemacht hat. Denn er und er allein ist die eigentliche und unmittelbare Ursache des Seins. Das Übel aber hat kein Sein, sondern fällt vom Sein ab.
Außerdem: Da das Sein im eigentlichen Sinne die Wirkung Gottes ist, so gießt er in das, dessen Ursache es ist, das Sein ein und teilt es ihm mit. Es ist aber unmöglich, daß das Sein irgendein oder irgendwie ein Übel ist. «Gut» und «seiend» sind nämlich austauschbar. Zu sagen, etwas sei ein Übel und es sei von Gott gemacht, bedeutet deshalb zu sagen, das Sein sei nicht Sein und das Übel sei kein Übel. Darüber habe ich ausgiebig gehandelt im Traktat «Über das Übel».
Wiederum ist anzumerken, daß der Tod nicht ist und kein Seiendes ist, sondern die Beraubtheit von Sein, und daß er als solche nichts ist. Den Tod machen ist also ein Nichts machen und folglich nichts machen oder nicht machen. «Hauptwörter und Tätigkeitswörter besagen (im lateinischen Satz) dasselbe, wenn man sie umstellt», also heißt den Tod machen, den Tod nicht machen. Und das ist es, was hier gesagt wird: «Gott hat den Tod nicht gemacht».
17 Außerdem. Wer macht, macht etwas zu Machendes oder etwas Gemachtes. Der Tod aber ist nicht etwas Gemachtes oder gemacht, sondern er ist ungemacht, d.h. nicht gemacht (defecta, id est non facta). Es ist nämlich ein Fehlen, keine Wirkung. So also «hat Gott den Tod nicht gemacht», wie hier gesagt wird, sowohl weil der Tod nicht ist als auch weil der Tod kein Seiendes ist, als auch weil er nicht gemacht ist, als auch weil ihn zu machen bedeutet, ihn nicht zu machen. Und das ist der Weg der Antwort des Augustinus im 11. Buch der «Bekenntnisse» an einen Fragenden: «Was machte Gott, bevor er Himmel und Erde machte?»
18 «Noch freut er sich am Untergang der Lebenden». Anzumerken ist, daß der Künstler sich natürlich an seinem Werk freut. Die Menschen lieben nämlich ihre Werke wie die Väter die Söhne, wie der Philosoph sagt. Deshalb heißt es im Psalm (138,8): «Die Werke deiner Hände verachte nicht». Wenn daher Gott den Tod gemacht hätte, so hätte er sich folglich am Untergang der Lebenden gefreut. Deswegen ist, nachdem es hieß: «Gott hat den Tod nicht gemacht», hinzugefügt: «noch freut er sich am Untergang der Lebenden».

  Den in n. 16 angesprochenen Traktat: "De his notavi diffusius in tractatu De malo" [notavi fehlt in Hs. E] (S. 337) führt Eckhart als vierte Abhandlung im Prologus generalis auf. [4.10.06]

Er hat nämlich geschaffen, damit alles sei. (V. 14)

  Mit diesem Satz ist Eckhart ganz in seinem Element und bei seinem Lieblingsthema: dem Anfang. Dementsprechend sind die nächsten 21 Absätze n. 19 bis n. 40 dieser Aussage gewidmet. Daraus einige Zitate:

  Es ist anzumerken, daß diese Worte genauestens dem entsprechen, was unmittelbar vorhergegangen ist: «Gott hat den Tod nicht gemacht, noch freut er sich am Untergang der Lebenden». Daß nämlich Gott nicht Ursache des Todes und ganz allgemein des Nichtseienden und der Beraubtheit ist, geht daraus hervor, daß Gott die Ursache des Seins ist und alles geschaffen hat, daß es sei: zum Sein, im Sein und wegen des Seins. (..) Schöpfung ist Verleihung des Seins nach einem Nichtsein. (n. 19)
  Die Ideen der geschaffenen Dinge sind nicht erschaffen und als solche unerschaffbar. Sie bestehen nämlich vor dem Ding und nach dem Ding, jedoch als deren ursprüngliche Ursache. Deswegen werden durch sie als durch ihre Ursachen und in unwandelbarem Wissen die wandelbaren Dinge erkannt, wie aus der Betrachtung der natürlichen Dinge hervorgeht. Das Ding in der Außenwelt aber ist hinsichtlich seines gestalthaften Seins veränderlich, erschaffbar und geschaffen. Und das ist es, was hier gesagt wird: Gott «hat geschaffen, daß alles sei». Joh. 1 (V. 1): «Im Anfang war das Wort» oder der Logos, was Idee bedeutet. (n. 22)
  Außerdem ist siebtens anzumerken, daß Schöpfung die Hervorbringung der Dinge aus dem Nichts ist. Wie nämlich der Mensch aus einem Nicht-Menschen entsteht und allgemein ein Dieses-Seiendes (ens hoc) aus einem Nicht-dieses-Seienden, in der Natur das Entgegengesetzte aus dem Entgegengesetzten, so bringt die Schöpfung des ersten und höheren als die Natur und die Naturursachen Wirkenden notwendig das Seiende schlechthin hervor, und zwar gemäß der Eigenart seines eigenen Seins aus dem Nicht-Seienden schlechthin oder aus dem Nichts, dem ihm entgegengesetzten Begriff. Denn das Sein und das Nichts stehen zueinander im Gegensatz. (n. 25)
  Daher kommt es erstens, daß allein die Erzeugung Liebe hervorbringt («haucht»), die Veränderung aber Schmerz. Daher kommt zweitens das Psalmwort: «im Frieden ist sein Ort» (Ps. 75,3). Friede ist bei der Erzeugung, wo nichts Unähnliches, Mißfallendes oder Widriges (mehr ist); Krieg aber ist bei der Veränderung. Daher kommt es drittens, daß der gezeugte Sohn sagt: «Ich bin nicht von dieser Welt», Joh. 8 (V. 23). Der Grund dafür ist, daß die Erzeugung nicht von dieser Welt ist, weil sie nicht in der Zeit ist. Die Veränderung aber ist, weil sie in der Zeit geschieht, von dieser Welt. Daher kommt viertens jenes Wort aus Joh. 16 (V. 33): «In der Welt werdet ihr Bedrängnis haben», «in mir aber Frieden». «In mir», dem Sohn, (Frieden) durch die Erzeugung, «in der Welt Bedrängnis», nämlich durch die Veränderung. (n. 30)
  Drittens ergibt sich, daß Vergangenheit und Zukunft als solche nicht in Gott sind und Gott nicht in ihnen, wie in ihnen ja auch kein Sein ist: «Die Vergangenheit ist nämlich nicht mehr, die Zukunft noch nicht». Deswegen hat er (in diesem Sinne) weder geschaffen noch hätte er geschaffen, wenn nicht das vergangene Geschaffene und das Geschaffenhaben ein gegenwärtiges Erschaffen wäre, gewissermaßen gegenüber seiend und soeben seiend. (n. 33)
  Viertens ergibt sich, daß alles Geschaffene aus sich nichts ist: «Er schuf nämlich, damit es sei», und vor dem Sein ist nichts. Wer also ein Geschöpf liebt, liebt nichts und wird zum Nichts. Die Liebe verwandelt nämlich den Liebenden in das Geliebte. Augustinus: «Wie das ist, das du liebst, so bist du. Du liebst ein Nichts: du bist ein Nichts». (..) Wer um dieses Vergängliche betet, der betet um nichts, betet übel und um Übles. Von diesem Übel versuchen wir erlöst zu werden, wenn wir am Schluß des Gebetes des Herrn sprechen: «Erlöse uns vom Übel», so gemäß der einen Auslegung. «Geschaffen hat er», heißt es, «alles» ohne Ausnahme, damit du nichts liebst, nichts begehrst außer ihm. (n. 34)
  Schließlich ist anzumerken, daß das zuvor Gesagte: «Er hat nämlich geschaffen, damit alles sei», auch anders gegliedert werden kann, so daß der Sinn ist: Gott «hat geschaffen, damit es alles gebe», d.h. die vielen Dinge und in ihrer Gesamtheit. Bei der ersten Weise, die Worte zu verstehen und zu gliedern, ist der Sinn, daß das Ziel der Schöpfung das Sein der Dinge sei, was auch wahr ist. Der Sinn der anderen Gliederung aber, nämlich: «Er hat geschaffen, damit es alles gebe», will sagen, daß das Ziel der Schöpfung das ganze Universum ist, das Gesamte nämlich: alle Dinge. (n. 35)
  Hinfällig ist auch die Frage, die nach den Ursachen der Ungleichheit der Dinge fragt. Aufgrund des Gesagten steht nämlich fest, daß, wie die erste Absicht und das erste Ziel der Schöpfung das eine vollkommene Universum ist, dessen Vollkommenheit und Einheit dennoch in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Teile besteht, so ist das erste Ziel der Schöpfung die aus der Einheit sich ergebende Ähnlichkeit, aus der sich jedoch die Ungleichheit der Dinge ergibt, ohne die das eine nicht besser wäre als das andere und nicht alle Dinge wären. So ist also Gott zuerst und wesenhaft die Ursache des Einen, der Ähnlichkeit und des Besten, welchen dreien jedoch, nämlich der Einheit, der Ähnlichkeit und dem Besten, an zweiter Stelle die Vielheit - in Entsprechung zum ersten -, die Ungleichheit - in Entsprechung zum zweiten -, und das Gute und das Bessere im Vergleich zu anderem - in Entsprechung zum dritten. (..) Immer wird nämlich das in unteren Bereichen Verschiedene und Widersprechende in höheren und oberen Bereichen einträchtig vereint. (n. 37)
  Hierzu ist wiederum anzumerken, daß eben dadurch, daß die Geschöpfe viele, unterschieden und ungleich sind, folgt, daß Gott ununterschieden, nicht vielhaft und nicht ungleich ist. Es folgt aber auch, daß jedes Geschaffene (dennoch) in gewisser Weise eines, gleich und ununterschieden ist. Der Grund für alles zuvor Gesagte ist, daß das Höhere immer aufgrund seines Wesens das im Verhältnis zu ihm Niedere bestimmt und von ihm umgekehrt in keiner Hinsicht bestimmt wird, wie aus dem Traktat: «Über die Natur des Höheren» hervorgeht. Also bestimmt Gott als Schöpfer jedes Geschaffene durch seine Einheit, seine Gleichheit und seine Ununterschiedenheit, gemäß jenem Wort des Proklos: «jede Vielheit hat in gewisser Weise am Einen teil». Und alles vom anderen Geschiedene ist ungeschieden in sich selbst. (n. 39)
  [Eckhart beschließt seine Ausführungen mit Zitaten von Seneca und Boethius, aus denen er folgert:] Da also hast du aus Seneca, daß das Eine und das Gleiche zur Natur des Göttlichen gehören und folglich das Viele, Ungleiche zur Natur der Geschöpfe. Aus Boethius aber hast du, daß diese Welt, das Universum als Ganzes, zuerst gewollt und vom Bild des Schöpfers als von seinem Vorbild abgeleitet ist, während die Teile (des Universums), von denen es ja viele gibt, erst an zweiter Stelle (kommen), insofern die Vollkommenheit des einen Universums ihrer bedarf. Oder, um es eigentlicher zu sagen: die Vollkommenheit des Universums ist die Grundlage der Teile. Ganz allgemein nämlich verleihen die Teile eines Ganzen dem Ganzen nicht das Sein, sondern sie empfangen umgekehrt ihr Sein von dem Ganzen, durch das Ganze und in dem Ganzen. (n. 40)

  N. 39: "sicut patet in tractatu De natura superioris" (S. 360). Die neunte Abhandlung aus dem Werk der Thesen (s. Opus n. 4). [6.10.06]

Die Gerechtigkeit ist nämlich immerwährend und unsterblich. (V. 15)

  Mit der 'Gerechtigkeit', der 'Weisheit' (den 'Vollkommenheiten' nach Eckhart) verhält es sich wie mit dem Einen und den Teilen. Die Hierarchie wirkt hier wie dort vom 'Höheren' zum 'Niederen' und nicht umgekehrt:

  Es ist zu bemerken, daß dieser Satz, wörtlich genommen, schlechthin ganz allgemein hinsichtlich jeder Gerechtigkeit wahr ist. Es ist nämlich zu wissen, daß es sich gänzlich anders und sogar in entgegengesetzter Weise verhält hinsichtlich der körperlichen Akzidentien, etwa dem Weißsein, dem Geschmack und dergleichen, anders auch hinsichtlich der geistigen Vollkommenheiten. Die körperlichen Akzidentien gehen nämlich zugrunde und hören auf zu sein, wenn ihre Träger zugrunde gegangen sind (..) Die geistigen Vollkommenheiten aber (..) empfangen nämlich in keiner Weise und keineswegs ihr Sein von ihren Trägern und folglich auch weder Teilung noch Zahl noch hört ihr Sein mit ihnen auf. «Jedes Ding wird nämlich durch dieselben Ursachen vernichtet, durch die es entsteht», wie Chrysostomus sagt, «und nichts ist so natürlich», wie ein Rechtsgelehrter dazu sagt. Umgekehrt aber empfangen solche Vollkommenheiten, etwa die Gerechtigkeit, die Weisheit und dergleichen, in keiner Weise und durchaus nicht etwas von sich durch ihre Träger, sondern sie geben dem Träger sein ganzes Sein als solches, wie sich aus der Gerechtigkeit und dem Gerechten ergibt. (n. 41)
  Zum Beispiel: Der Gerechte empfängt als solcher sein ganzes Sein von der Gerechtigkeit, so daß die Gerechtigkeit wahrhaft Erzeuger und Vater des Gerechten ist und der Gerechte als solcher wahrhaft das gezeugte Kind und der Sohn der Gerechtigkeit, wie ich bemerkt habe zu dem Wort: «von ihm ist alle Vaterschaft im Himmel und auf der Erde», Epheserbrief 3 (V. 15). Zudem aber bilden ein einleuchtendes Beispiel Körper und Seele. Wir sagen nämlich gewöhnlich, die Seele sei im Körper, während doch der Wahrheit nach eher der Körper in der Seele ist und diese dem Körper das Sein gibt. (n. 42)
  Daß aber von Unkundigen gesagt und geglaubt wird, die Gerechtigkeit, die Weisheit und dergleichen stürben mit dem Gerechten und dem Weisen, kommt von der Unwissenheit derer, die das Geistige wie das Körperliche beurteilen, während es doch umgekehrt immer auch in der Natur so ist, daß das Geistige die Richtschnur des Körperlichen ist. Deshalb heißt es treffend weiter unten: «Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und nicht wird sie des Todes Qual berühren». (..) Und das ist es, was Isaias 30 (V. 18) gesagt wird: «Der Herr erwartet euch, um sich eurer zu erbarmen», wie ich ausführlicher und vollständiger zu dieser Stelle angemerkt hatte. (n. 43)
  Wiederum ist zum Verständnis des zuvor Gesagten zu bemerken, daß man sich nicht vorstellen darf, wie die meisten Stumpfsinnigen meinen, als ob die Gerechtigkeit in mehreren Gerechten jeweils eine andere sei, geteilt und gezählt und in die einzelnen Gerechten eingewurzelt, wie es sich mit den körperlichen Akzidentien verhält und wie schon gesagt wurde. (..) Und das ist es, was Augustinus im 3. Buch der «Bekenntnisse» sagt: «Die Gerechtigkeit, nach der alle (Gerechten) gerecht sind, ist überall und immer, nicht anderswo eine andere noch ein andermal anders». (..) Wenn nämlich mehrere Gerechte durch eine jeweils andere Gerechtigkeit gerecht wären, so wären sie entweder nur dem Namen nach (aequivoce) gerecht zu nennen oder die Gerechtigkeit verhielte sich zu den Gerechten (immer) im gleichen Sinne (univoce). Nun aber verhält sie sich (zu den Gerechten) im analogen Sinne, vorbildhaft und als das Frühere. Sie fällt (also) nicht unter die Zahl und auch nicht unter die Zeit. Und das ist etwas allen geistigen und göttlichen (Vollkommenheiten) Gemeinsames, gemäß dem Wort des Psalms (146,5): «seine Weisheit ist ohne Zahl», wie ich dazu bemerkt habe. (n. 44)
  Indem wir das sagen, was wir oben vorausgeschickt haben, leugnen wir jedoch nicht, daß es Angelegtheiten zur Tugend in den Tugendhaften gibt, sondern wir sagen (nur), daß sie gewisse Gleichgestaltungen und Gleichbildungen mit der Gerechtigkeit und mit Gott sind, von dem sie sind und dem sie (die Gerechten) gleichgestalten und gleichbilden, gemäß dem Wort Kor. 3 (2. Kor. 3,18): «In dasselbe Bild werden wir verwandelt ... als vom Geist des Herrn». (..) Und sie (die Tugenden) sind auch in ständigem Werden, wie der Glanz (des Lichts) im Medium (der Luft) und wie das Bild im Spiegel. Deswegen werden sie auch Blüten genannt, Eccli. 24 (V. 23): «Blüten sind meine Früchte». Die Tugenden sind (nämlich) nach Ambrosius Früchte, und diese Früchte sind Blüten. Zu dem Gesagten trägt bei, daß - wie zu dem Wort «Blüten sind meine Früchte» schon gesagt wurde - in Gott der Sohn immer geboren wird und wiederum auch, daß in Christus als Mensch kein anderes Sein ist außer dem göttlichen Sein, durch das er der Sohn Gottes ist. (n. 45)

  Zu n. 42: Eph. 3,15 findet sich nicht in den Predigten; Eckhart zitiert den Satz aber im Tractatus super ... n. 3, in Exodus n. 185 und im Johannes-Kommentar n. 59, n. 470 und n. 515.
  Zu n. 43: Isaias 30,18 ist im Werk (soweit ich das überblicken kann) bisher nicht auffindbar.
  Zu n. 44: Auf Psalm 146,5 bezieht sich Eckhart nur im Johannes-Kommentar n. 369.
[9.12.06]

Drittes Kapitel

Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. (V. 1)

  Es folgt eine siebenfache Liste zu "Gottes Hand": 1. Sie ist 'Leben und Licht', oder 2. Die Hand Gottes ist der Heilige Geist, der Arm Gottes der Sohn, oder 3. Die Hand ist der Sohn und der Finger der Heilige Geist, oder 4. Die Gerechten sind in Gottes Hand, oder 5. der Gerechte ist in der Hand, weil er mit Gott und der mit ihm wirkt wie Körper und Seele,

  Oder sage sechstens: «in Gottes Hand» werden die Gerechten genannt, weil sie nicht müßig sind, sondern «von Tugend zu Tugend» schreiten, Psalm (84,8) und Kor. 6 (2. Kor. 6,1): Wir ermahnen euch, «daß ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt». Die Hand ist nämlich Werkzeug zum Wirken. «Sie sind». Es heißt nämlich «sie sind», weil das Sein der Gerechten in Gott ist, nicht allein, insofern Gott das Sein ist, auf welche Weise ja alle Geschöpfe in ihm als dem Schöpfer sind, sondern sie (d.h. die Gerechten) sind in Gott, insofern er (gerechtes Handeln) belohnt.
  Zudem aber siebtens: Die Gerechten (sind) in Gott, weil sie nach nichts außer nach Gott verlangen oder dürsten. (..) (n. 46)

  Im abschließenden Absatz (n. 47) bringt Eckhart zwei passende Zitate aus Augustinus. Albert merkt zum vorhergehenden Absatz an: "Bei der Auslegung von Weish. 3,1 wird deutlich, daß der Sapientiakommentar für andere Prediger geschrieben ist. Vgl. das fünfmalige «dic» in n. 46." (S. 154) [11.12.06]

Viertes Kapitel

Wie schön ist ein keusches Geschlecht. Und weiter unten: Pflanzungen an falschem Ort werden keine tiefen Wurzeln schlagen. (V. 3)

  Zunächst referiert Eckhart in n. 48, dass Bäume nicht an einen anderen (falschen) Ort verpflanzt werden sollen, weil dann u.a. "die Früchte ungenießbar" werden und vergleicht einen solchen Baum mit einem 'Maultier oder Mischling' und stellt fest:

  Demgemäß sagt der Philosoph, daß die Frau ein mißglückter Mann sei. Und sowohl das Maultier, das aus Esel und Stute, als auch der Maulesel, der aus Hengst und Eselin erzeugt wird, bei denen der Samen in fremder Materie und in falschem Boden aufgenommen wird, sind ihrer Art fremd und nicht zur Vollkommenheit ihrer Natur und Art gelangt. Deswegen ist jedes Maultier unfruchtbar. Zur Vollkommenheit gehört nämlich das Erzeugen und ein mit seinesgleichen Ähnliches zu machen oder hervorzubringen. Solches in falschem Ort (Gezeugtes) ist unvollkommen. Deswegen ist jede Frau unfruchtbar im aktiven Sinne, wie jedes Maultier unfruchtbar ist, niemals zeugt es im eigentlichen Sinne. Daher ist zu bemerken, daß es gewissermaßen denselben Sinn hat zu sagen, ein weibliches Maultier gebäre, wie (zu sagen), eine Frau zeuge in aktiver Weise. (n. 49)

  (Nun, mit der gleichen Berechtigung könnte man sagen, der Mann sei eine mißglückte Frau, weil er nicht gebären kann.) In den beiden folgenden Absätzen stellt er 'natürliche' gegen 'künstliche' Entwicklung (Baum am richtigen gegen Baum am falschen Ort) (n. 50), dass jedes Ding auf seinen eigenen Boden gehöre (n. 51) und folgert:

  Es ist zu merken, daß jedes Geschaffene als Geschaffenes unterschieden ist und infolgedessen für jedes (andere) Geschaffene ein anderes, da jedes (von jedem) unterschieden ist. Für Gott aber ist nichts ein anderes, da er ununterschieden ist. Das Ununterschiedene aber ist niemals ein anderes. Es wäre nämlich unterschieden, wenn es ein anderes wäre. Es ergibt sich also, daß jeder, der sich in Liebe zu einem Geschaffenen neigt und sich ihm einpflanzt, sich in etwas anderes einpflanzt und so zu einer Pflanzung am falschen Ort wird, «die der himmlische Vater», Gott, «nicht gepflanzt hat» (Matth. 15,13), und infolgedessen deren Früchte «ungenießbar und bitter» sind. Und das ist es, was hier gesagt wird: «Pflanzungen am falschen Ort». (n. 52) [11.12.06]

Fünftes Kapitel

Verse:   16

Sie sind unter die Söhne Gottes gerechnet. (V. 5)

  Zunächst erklärt Eckhart, wie das mit dem 'gerechnet' werden zu verstehen ist an einigen Beispielen: bei einem Fang trennt man die guten von den schlechten Fischen, verdorbene Früchte und faule Eier werden weggeworfen, also nur die guten gezählt (= gerechnet) (n. 53). Dann stellt er fest, das das Schlechte nicht gezählt wird, also nicht ist, ihm kein Seiendes zukommt (n. 54). Die Argumentation entspricht der zu Vers 1,13, nur das diesmal nicht vom Tod, sondern vom Teufel die Rede ist:

  Merke, daß die Guten dadurch, daß sie sind und gerechnet sind, «Söhne Gottes» sind, die Schlechten dagegen «Söhne des Teufels» (1. Joh. 3,10), weil sie nicht sind und nicht gerechnet sind. «Was nämlich aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist», Joh. 3 (V. 6). Gott aber ist. «Der, welcher ist, hat mich gesandt», Exod. 3 (V. 14). Der Teufel aber ist nicht, insofern er schlecht ist, Joh. 18 (V. 15): (er gehört zu den) «Genossen dessen, der nicht ist». Es steht also fest: Da Gleiches von Gleichem gezeugt wird, das Kind vom Vater, so werden die Guten dadurch, daß sie sind, Gezeugte und Söhne des Seins. Gott aber ist das Sein. Und das ist es, was hier gesagt wird: «sie sind unter die Söhne Gottes gerechnet». Also gilt für den Gegensatz: Die Schlechten sind, weil sie nicht sind, Gezeugte und Söhne dessen, der nicht ist, d.h. des Teufels, Joh. 8 (V. 44): «Ihr seid von eurem Vater, dem Teufel». Daher kommt es, daß man im Volk und üblicherweise zu einem Schlechten und Schlechtes Tuenden sagt: «Teufel». Die Sünder sind also nicht und sind nicht gerechnet und sind Söhne des Teufels und sind nicht. Psalm (14,4): «Zum Nichts geworden ist vor seinem Anblick der Schlechte». Und Augustinus sagt zu dem Wort: «Ohne ihn ist das Nichts geworden», Joh. 1 (V. 3): das Nichts, d.i. die Sünde. Zu dem Gesagten trägt Origenes bei, der in einer Glosse zu Jeremias 11 (V. 9) sagt: «So oft werden wir aus dem Teufel geboren, wie oft wir sündigen. Unselig, wer immer vom Teufel geboren wird. Der aber ist selig, der immer aus Gott geboren wird. Ich will nämlich nicht sagen, der Gerechte sei aus Gott nur eimnal geboren worden, sondern er wird durch die einzelnen Werke der Tugend immer aus Gott geboren». Das sind die Worte des Origenes, gemäß dem Wort Joh. 3 (1. Joh. 3,8): «Wer Sünde tut, ist aus dem Teufel». Der Sünder ist also ein Sohn des Teufels, ist ein Nichts. (n. 56)

  Das Zitat von Origenes "ist wichtig für die Geschichte der Eckhartschen Lehre von der Gottesgeburt" (Albert, S. 155). Der folgende Absatz n. 56 findet weitere Belege der Argumentation und nennt dann drei Zeichen, an denen erkannt werden kann, ob einer 'Sohn Gottes' oder 'Sohn des Teufels' ist:

  Das erste Zeichen aber, daß jemand ein Sohn Gottes ist, besteht in der Reinheit oder Lauterkeit des Herzens. Das zweite in der Aufrichtigkeit des Gebets oder der Liebe: das (lateinische) Wort (für «Sohn») «filius» leitet sich nämlich von «philos» ab, was «Liebe» bedeutet. Das dritte ist der Gleichmut (aequalitas) des Herzens: wie nämlich in Gott dem Vater die Einheit zugesprochen wird, so dem Sohn die Gleichheit (aequalitas).
  Vom ersten Zeichen heißt es Kor. 6 (2. Kor. 6,17 f.): «Zieht weg aus ihrer Mitte und sondert euch ab», «Unreines berührt nicht» und «Ich werde euch Vater und ihr werdet mir Söhne werden». Vom zweiten (Zeichen) Ephes. 5 (V. 1 f.): «als vielgeliebte Söhne wandelt in der Liebe». Vom dritten (Zeichen) Sprüche 3 (V. 11 f.): «wirf die Zucht des Herrn nicht weg, mein Sohn, und laß nicht nach, wenn du von ihm gestraft wirst; wen der Herr nämlich liebt, den straft er und hat dennoch wie ein Vater Wohlgefallen an seinem Sohn». (n. 57)

  Es folgen Zitate Senecas zum 'Gleichmut des Herzens' und schließlich beendet Eckhart den Kommentar mit einer Anweisung an einen Predigerbruder, aus der hervorgeht, dass er hier in seiner Eigenschaft als Lehrer agiert:

  Im Blick auf diese drei Zeichen kann das Wort Joh. 1 (V. 12 f.) ausgelegt werden: «Er gab ihnen Macht, Söhne Gottes zu werden». Und weiter unten: «... die nicht aus dem Blut, noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes» geboren sind. Beziehe das einzelne auf die einzelnen Bestandteile. (n. 58) [11.12.06]

Die Gerechten aber werden ewig leben, und ihr Lohn ist bei Gott. (V. 16)

  Eckhart unterteilt den Vers in drei Teile: 'die Gerechten' (n. 59 - n. 68), 'sie werden ewig leben' (n. 69) und 'ihr Lohn ist bei Gott' (n. 70). Der 'Gerechte' kann an viererlei erkannt werden: 1. Gleichmut (s. n. 57), 2. er weicht nicht vom Willen Gottes ab, 3. "Er gibt jedem, was sein ist" (Ambrosisus) und 4. Er schuldet denen, die noch im Fegefeuer sind Beistand, d.h. er betet für die Verstorbenen (auf dieses Gebet weist er auch in Predigt 6 und im Sermo X hin). (n. 59). In n. 60 ergänzt er den 1. Punkt um die Liebe und weist darauf hin, dass dem Geschöpf keine Liebe, sondern Furcht gebührt, um in n. 61 gegen die Nicht-Gerechten Stellung zu beziehen: die, die aus Gott eine Ziege oder einen Bettler machen und die Gott nicht geben, was Gottes ist und dem Kaiser nicht, was des Kaisers ist und fasst dann zunächst zusammen:

  Wiederum viertens: Gerecht ist, um es eigentlicher und wirklichkeitsgemäßer zu sagen, wer ganz und gar alles liebt, was gerecht ist, alles haßt, was nicht gerecht oder etwas anderes oder Fremdes ist, auch sich selbst (haßt er), sofern er etwas der Gerechtigkeit Unähnliches ist, gemäß dem Wort Joh. 7 (V. 20): «Du hast mich dir zum Widersacher gemacht und so bin ich mir selbst zur Last geworden». Dazu habe ich ausführliche Bemerkungen gemacht über das Wort. Röm. 9 (V. 3): «Ich wünschte [von Christus] verbannt zu sein [für meine Brüder]». (n. 62)

  Zu "de hoc notavi diffuse super illud Rom. 9" (LW 2, S. 390,14) merkt Albert an: "Ein Kommentar Eckharts zum Römerbrief ist nicht erhalten. Eckhart ist aber in anderen Schriften und Predigten mehrfach auf die genannte Stelle eingegangen. Dabei hat vor allem die Auslegung in der Pr. 12Qui audit me»), DW I 195,14-197,5 bei den Kölner Inquisitoren Anstoß erregt. Vgl. LW II 217 Anm. 1." (S. 155, Anm. 75). An der entsprechenden Stelle in LW 2 (Exodus n. 270 letzter Satz) wird u.a. auf Proc. Col. I n. 68 und II n. 36. 38 verwiesen.
  Es folgen weitere Erörterungen des Gerechten und der Gerechtigkeit, wie z.B. die Beziehung zur Dreifaltigkeit:

  Auch ist hierzu nachdrücklich zu bemerken, daß bei der Rechtfertigung des Sünders, ja sogar in jedem Akt und Wirken der Gerechtigkeit, ein Abbild und Ausdruck der Dreifaltigkeit liegt. Da gibt es nämlich notwendig die ungezeugte Gerechtigkeit, von der und nach der der Gerechte gebildet und gezeugt wird; da gibt es notwendig die gezeugte Gerechtigkeit, ohne die der Gerechte nicht gezeugt wäre; und es gibt drittens notwendig die Liebe des Zeugenden zum Gezeugten und des Gezeugten zum Zeugenden, die von beiden ausgeht und ausfließt wie von einem Einen. (n. 64)

  Und weitere Betrachtungen wie zum Geschlecht der Gerechtigkeit (sie ist ein Neutrum), zur Liebe des Hl. Geistes und der Natur, zur Gerechtigkeit und zur Dreifaltigkeit und zu den Festen, die für jeden Bekehrten (= Gerechtfertigten) gefeiert werden. Eckhart beendet dann diesen '1. Teil' mit:

  Fünftens ist zu bemerken, daß der Gerechte ganz und gar und an sich in geradem Blick die Gerechtigkeit selbst und sie, wie sie in sich selbst ist, anblickt. Den Gerechten aber oder irgendwelche Gerechten oder Gerechtes beachtet, sieht und liebt er auf keine Weise, sondern nicht einmal sich selbst, es sei denn als Folge und gewissermaßen nur nebenbei und in zweiter Linie, insofern dieses (alles) im Licht der Gerechtigkeit ist. Deswegen erkennt und liebt er folglich wahrer und inniger das, was der Gerechtigkeit mehr nachgebildet und überbildet ist und entbildet allem, was der Gerechtigkeit fremd oder etwas anderes als sie ist. Und das ist es, was ganz klar Deut. 6 (V. 5) und in den Evangelien (Matth. 22,37 ff.; Mark. 12,30 f.) gesagt wird: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen» usw. Und es folgt: «Das ist das erste und größte Gebot, das zweite aber», weil es folgt und gewissermaßen daraus folgend ist, lautet: «und deinen Nächsten wie dich selbst». Deswegen heißt es nämlich das 'folgende' und das (dem ersten Gebot) 'ähnliche', weil es folgt und aus ihm folgt. Deshalb heißt es im Wort des Psalms: «Der Herr ist gerecht und liebt die Gerechtigkeit, Redlichkeit erblickt sein Antlitz» (Ps. 10,8).
  Das zum ersten Punkt, dem Verdienst, wenn es heißt: «Die Gerechten». (n. 68)

  Auf das Verdienst folgt der Lohn "sie werden ewig leben" (n. 69). Und dieses kann (n. 70) vierfach ausgelegt werden: 1. Der Lohn ist nichts außer Gott, 2. Die Gerechten sind bei Gott, 3. Sie sind Söhne Gottes. Ein 4. gibt Eckhart nicht an, aber das wurde ja bereits im Absatz vorher festgestellt. Übrigens spricht auch das Inhaltsverzeichnis von einer vierfachen Auslegung, obwohl streng genommen nur bis drei gezählt wird. [12.12.06]

Sechstes Kapitel

Verse:   13   14   20

Hört also, ihr Könige. Und weiter unten: Seine Fürsorge gilt allem in gleicher Weise. (V. 8)

  (..) Deshalb ist gegenwärtig allein das zu beachten, daß notwendig jede wesenhafte Ursache, und besonders die erste, so, wie sie ihre Wirkung ins Sein setzt, sie diese auch erhält und notwendigerweise auf sich hinordnet. Nichts von etwas Hervorgebrachtem kann aus der Ordnung seiner Ursache herausfallen, wenn diese die erste Ursache ist, die Ursache der ganzen Seiendheit (des Hervorgebrachten). Was nämlich von ihr abfällt, fällt vom Sein ab und ins Nichtsein und gehört nicht mehr in die Zahl von allem (Seienden). Daraus geht klar hervor, daß hinsichtlich der ersten Ursache, nämlich Gott, nichts zufällig ist. «Zufall» hat nämlich seinen Namen von «fallen». Was aber von Gott, der Ursache von allem (Seienden) abfällt, das fällt vom Sein ab und ist nicht mehr und ist nicht etwas von allem (Seienden). Und das ist es, was hier treffend von Gott, der ersten Ursache, gesagt wird: «Seine Fürsorge gilt allem in gleicher Weise». Zufällig ist nämlich, was nicht unter die Fürsorge fällt, sondern aus der Fürsorge herausfällt und aus dem Sein herausfällt und nicht mehr ist. (n. 71)

  (..) Obwohl die einzelnen Seienden nämlich untereinander ungleich sind, mehr oder weniger vollkommen sind, so empfangen und erhalten oder bekommen sie doch das Sein aufgrund des einen Seins, das an sich und zuerst unter die Wirksamkeit und die Sicht der ersten Ursache allen Seins fällt. Weil sie also aufgrund des Einen und im Einen hervorgehen, sind und im Sein stehen und folglich unter der ersten Ursache (stehen), die die Ursache des Seins ist, so folgt, daß sie auch in gleicher Weise unter der Fürsorge eben dieser ersten Ursache stehen: «in gleicher Weise», weil aufgrund eines und desselben Seins, welches das Sein des ganzen Universums ist. So verhält es sich ganz allgemein in der Natur mit jedem Ganzen und seinen Teilen, die immer eine einzige Wirkursache und eine einzige Form, eine einzige Materie und eine einzige Zielursache und folglich ein einziges Wesen haben. (n. 72)

  Anm. Albert zu seiner Übersetzung als 'Materie': "Die Handschriften haben hier «unum esse». Das übernimmt auch Koch und übersetzt entsprechend. Zu erwarten wäre aber «una materia», da hier offenbar die vier Ursachenarten zusammengestellt sind. Daher meine Übersetzung: «eine einzige Materie»." (S. 156, Anm. 82)

  Dazu ist zu bemerken: Wie beim Fehlen eines vollkommensten Geschöpfes das Universum nicht vollkommen und auch kein Universum wäre, so wäre aus dem gleichen Grund beim Fehlen einer niedrigsten Stufe des Universums das Universum nicht vollkommen und auch kein Universum. Und so verhalten sich (alle Seienden) in gleicher Weise zur Vollständigkeit und Vollkommenheit des Universums, und folglich gilt ihnen «die Fürsorge in gleicher Weise». Indem sehr viele das nicht bedachten, irrten sie und verfielen in sinnlose Fragen und Ungereimtheiten. (..) (n. 73) [12.12.06]

Rein ist und niemals welkt die Weisheit (V. 13)

  Es ist kurz zu bemerken, daß, weil die geistigen Vollkommenheiten, wie die Weisheit, die Gerechtigkeit und dergleichen, ihr Sein nicht von ihren Trägern empfangen, sondern eine äußere Wirkursache haben (..), sie nicht eigentlich zu den Trägern hinzutreten und folglich keine Akzidentien sind, sondern umgekehrt werden vielmehr die Träger, indem sie zu derartigen Vollkommenheiten hinzutreten, geformt und überformt (..)
  Deswegen vermischen sich derartige Vollkommenheiten nicht mit ihren Trägern und gehen folglich weder zugrunde noch altern sie oder verändern sich, wenn ihre Träger zugrunde gehen oder altern, gemäß dem Wort des Philosophen in «Über die Seele» (I c. 4): «Wenn ein alter Mann das Auge eines jungen Mannes hätte, so würde er sehen wie ein junger Mann». (..) Anders in allem aber verhält es sich bei den materiellen Formen und Vollkommenheiten, wie oben im ersten Kapitel gesagt wurde (..) (n. 74) [13.12.06]

Sie kommt denen zuvor, die sie begehren, um sich ihnen zuerst zu offenbaren (V. 14). Und weiter unten: «Sie geht umher und sucht die, die ihrer würdig sind» (V. 17), und mehr dergleichen vorher und nachher im gleichen Kapitel.

  Zum Verständnis all dessen sind fünf Sätze zu merken, die auch in sich ergiebig sind, und aufgrund von jedem kann für sich ein großer Teil des sechsten Kapitels und noch anderes mehr ausgelegt werden. Erstens also muß man wissen, daß das, was einer sucht, und es allein, ihm etwas wert und er dessen würdig ist. Und das ist der erste Satz. Wenn zum Beispiel einer etwas wirkt, wobei er aufgrund seines Werkes Ehre sucht, so ist er auch nichts anderen würdig als der Ehre, und nur die Ehre ist ihm etwas wert. Denn sie sucht er und deshalb hält er, insofern er Ehre sucht, nichts, was nicht Ehre ist, für wert. Deshalb ist er auch nichts anderen würdig als der Ehre, sowohl weil er nichts anderes für wert erachtet, als auch weil er Ehre sucht. (..) (n. 75)
  Der zweite Satz ist, daß die Gerechtigkeit mehr und zuerst den Gerechten liebt als der Gerechte die Gerechtigkeit. Der Grund dafür ist, daß die Gerechtigkeit dem Gerechten sowohl verleiht, daß er gerecht ist, als auch, daß er die Gerechtigkeit und das Gerechte liebt. 1. Joh. 4 (V. 10): «Er hat uns zuerst geliebt». (..) (n. 76)
  Der dritte Satz ist, daß ganz allgemein das Höhere, auch in der Natur, früher, wirksamer und milder auf das zugehörige Niedere aktiv und gebend einwirkt als das Niedere passiv und empfangend (diese Einwirkung aufnimmt). Beweis und Zeichen dafür finden sich auch in der Natur. (..) (n. 77)

  Es folgt als 'Beweis' eine für heutige Ohren ziemlich abstruse Theorie darüber, wie die 'erste', 'höchste' Himmelssphäre auf die 'niederen' Himmelssphären wirkt und so Ursache der Bewegung der Himmelskörper wird ...

  Der vierte Satz ist, daß alles, was gesucht wird, solange es noch nicht sichtbar ist und nicht in Erscheinung tritt, mit Mühe gesucht wird, weil man noch keine Hoffnung (es zu erreichen) hat. «Eine Hoffnung nämlich, die hingehalten wird, entmutigt die Seele», Sprüche 13 (V. 12).

  Aber ohne Hoffnung macht man sich doch erst garnicht auf den Weg. Wenn man etwas sucht, geht man doch gerade davon aus, dass man es auch findet.

  Wenn nämlich das, was gesucht wird, zu erscheinen und erkennbar zu werden beginnt, wird die Mühe kleiner und der Suchende wird fröhlich. Wenn zum Beispiel jemand ein Feuer oder etwas ähnliches sucht, so müht er sich widerwillig, solange er nicht die Nähe des Gesuchten spürt, wenn es aber warm zu werden beginnt, dann weiß er schon, daß es das Feuer, das er sucht, gibt und daß es da ist. (..) Und deswegen freut sich der Gottsucher auch schon unterwegs bei seinem Suchen, weitet sein Herz und wird stark. Psalm (104,3 f.): «Es freue sich das Herz der den Herrn Suchenden». Und wiederum: «Suchet den Herrn und werdet stark». (..) (n. 78)

  Traurig, gedrückt und mühselig ist dagegen ist der Weg derjenigen, die Gott nicht suchen. Deshalb ruft Eckhart sie mit Matthäus (11,28) auf, zu Gott zu kommen (n. 79).

  Der fünfte Satz ist, daß Gott als das erste Bewegende der Ursprung aller Bewegungen ist, sowohl der körperlichen als auch der geistigen. Er ist auch als die erste formgebende Wirklichkeit, nämlich das Sein, der Ursprung aller formgebenden Vollkommenheit. (..) Zu einzelnen Stücken des Gesagten paßt, was zu Isaias 41 (V. 4) gesagt wird: «Ich bin der Erste und der Letzte», «der Ursprung und das Ziel» (Offb. 22,13). Diese nämlich, Ursprung und Ziel, bewegen und wirken in allem zuerst, und sie bewegen ohne Mühe, ohne Widerwillen und Schwierigkeit. (..) (n. 80)
  Der sechste Satz ist, daß ganz allgemein das Erste nicht unter das Verdienstliche fällt, und infolgedessen hat man es ohne jede Mühe und irgendwelche Bitterkeit, ohne Pein, ohne Schmerz. Von dieser Art ist alles, was von Gott und von ihm allein kommt als dem Ersten von allem. (..) (n. 81)

  Sprach Eckhart nicht am Anfang des Verses davon, man solle sich fünf Sätze merken? Nun sind es doch sechs geworden. Weder Albert noch die Edition (Koch) haben dazu eine Anmerkung. Immerhin ist es dem Verfasser des Inhaltsverzeichnisses aufgefallen. [14.12.06]

Unvergänglichkeit bewirkt, Gott das Nächste zu sein (V. 20)

  Es ist zu merken, daß dieser Satz im eigentlichsten Sinne gesagt ist. Wie nämlich das Werden der Weg vom Nichtsein ins Sein ist, so ist das Vergehen der Weg vom Sein ins Nichtsein. Gott aber ist das Sein, Exod. 3 (V. 14): «Ich bin, der ich bin», «der da ist, hat mich gesandt». Nichts aber ist so fern vom Sein wie das Nichtsein, dem Sein das Nächste zu sein aber ist schlechthin Sein. Daher ist nichts so fern von Gott wie das Vergehen, nichts so nahe, oder besser, so sehr das Nächste wie die Unvergänglichkeit als Verneinung des Nichtseins, als Behauptung oder Bejahung des Seins. (..) (n. 82)

  Zum Abschluß folgt noch ein Zitat von Maimonides. [15.12.06]

Siebtes Kapitel

Verse:   7a   7b   8   10   11a   11b   12   13   24   25   26   27a   27b

«Auch ich bin (sterblich)» usw. (V. 1). Und weiter unten: In der Zeit von zehn Monaten bin ich im Blut gebildet worden aus dem Samen eines Mannes (V. 2)

  Die Kommentierung des siebten Kapitels nimmt den weitaus meisten Raum ein: 82 Absätze (von insgesamt 300 nach der kritischen Edition, die Albert übernimmt) - n. 83 bis n. 166. Die ersten beiden sind dem zweiten Vers gewidmet. In n. 83 referiert Eckhart Ovid (der 'Dichter') und zählt vier Bedeutungen der Zahl 10 auf: 1. Die zehn-monatige Schwangerschaft, 2. Zehn-monatige Trauerzeit für eine Witwe, 3. Zehn Finger und 4. Zehn ist die Grenze der Zahlen. Das leitet er aus dem lateinischen ab: Denn elf heißt 'undecim', also 'eins und zehn' und zwölf 'duodecim' oder 'zwei und zehn'. Die arabische Zählweise hatte sich zu seiner Zeit noch nicht etabliert. In n. 84 weist er darauf hin, dass es 'im Blut', aber 'aus dem Samen' heißt und stellt fest, dass das Kind hinsichtlich der Erbsünde ganz und gar von der Mutter stammt, im "aktivem" Sinn aber allein vom Vater (dazu verkneife ich mir jetzt einen Kommentar) und zitiert dann:

  Der Philosoph (Aristoteles) meint nämlich in «Über die Tiere», daß der Samen des Vaters nicht als Stoff in die Substanz des Kindes übergeht, sondern sich zum Blut der Mutter, aus dem sie gebildet wird, wie der Zimmermann oder die Kunst des Zimmerns sich zum Holz verhält, aus dem das Haus gebildet wird. Avicenna meint jedoch in «Über die Tiere», daß das Kind aus dem Samen des Vaters gebildet werde und daß (der Samen) dem Stoff nach zu den Lebensgeistern des Kindes werde oder in sie eingehe. (n. 84) [19.12.06]

Ich wünschte, und es wurde mir Einsicht gegeben; ich rief, und es kam in mich der Geist der Weisheit (V. 7)

  Zunächst beschäftigt sich Eckhart (n. 85) mit dem ersten Teil des Verses: 'Ich wünschte' und fragt: Wenn ein sehnlicher Wunsch allein durchs Wünschen erfüllt würde, würde man den Wunsch nicht bereuen und bedauern, nicht noch mehr gewünscht zu haben? und führt dazu ein Beispiel an, dass ich hier in voller Länge wiedergeben möchte:

  Dazu aber paßt, was Tullius (Cicero) im 1. Buch der «Alten Rhetorik», etwa in der Mitte, über Aspasia anführt, die in Gegenwart von Xenophon und seiner Gattin sagte: 'Sage mir bitte, Xenophons Gattin, wenn deine Nachbarin einen besseren Goldschmuck hätte als du, möchtest du dann lieber deinen oder ihren?' 'Ihren' sagte sie. 'Wenn sie ein Kleid oder anderen weiblichen Schmuck von höherem Wert hat als du, möchtest du lieber deinen oder ihren?' Sie antwortete: 'Ihren'. 'Wenn sie', sagte (Aspasia), 'einen besseren Mann hätte als du?' Hier wurde die Frau rot. Aspasia aber begann nun ein Gespräch mit Xenophon. 'Bitte Xenophon', sprach sie, 'wenn dein Nachbar ein besseres Pferd hat als das deine ist, möchtest du lieber dein Pferd oder seines?' 'Seines', sagte er. 'Wenn er ein besseres Grundstück hat als du, möchtest du dann sein Grundstück haben?' 'Seines', sagte er. 'Wenn er nun eine bessere Ehefrau hat als du, möchtest du dann lieber seine?' Und hier schwieg auch Xenophon. Danach sprach Aspasia: 'Da ja ihr beide mir nicht auf das geantwortet habt, was allein ich hören wollte, werde ich es selbst sagen, was ihr beide denkt. Denn sowohl du, Frau, willst - das heißt wünschst — den besten Mann haben, als auch du, Xenophon, willst am liebsten die vortrefflichste Ehefrau haben. Daher werdet ihr, auch wenn ihr nicht erreicht, daß der Mann ein besserer und die Frau eine vortrefflichere ist, tatsächlich immer das, was ihr für das Beste haltet, weit mehr ersehnen'. Und das ist es, was hier gesagt wird: «Ich wünschte», nämlich die Weisheit, und es folgt: «Ich habe sie Königreichen und Herrschersitzen vorgezogen» (Weish. 7,8). (n. 86) [20.12.06]

Ich rief, und es kam in mich der Geist der Weisheit (V. 7)

  In den folgenden drei Absätzen zitiert Eckhart Augustinus und trifft (summiert, gerafft, zusammengefasst) u.a. die Aussagen (sinngemäß): Wenn du Gott um Geld o.ä. anrufst, dann wundere dich nicht, wenn er dich nicht erhört. Rufst du Gott aber um Gott an, wirst du sicher erhört werden (n. 87). Kehr in dich selbst zurück. Die Weisheit kommt in die inneren geistigen Kräfte der Menschen, nicht in die äußeren (n. 88). Eigentlich werden mit diesem Vers der Sohn und der Hl. Geist angerufen, von Gott gesandt (n. 89). Dieser letzte Absatz birgt noch einige andere Bibelzitate, deren Zusammenhang mit dem zu kommentieren Vers eher rätselhaft ist. [21.12.06]

Reichtümer hielt ich im Vergleich zu ihr für nichts (V. 8)

  Der Sinn ist der, daß Gott ein so großes Gut ist, daß im Verhältnis zu ihm und im Vergleich mit ihm jegliches andere, ja sogar alles, für nichts gilt (..) Einer der vierundzwanzig Philosophen sagt: «Gott ist der, im Vergleich mit dem die Substanz Akzidens ist und das Akzidens nichts». Ebenso: «Gott ist der Gegensatz zum Nichts, wobei das Seiende in der Mitte steht». Das will besagen, daß, wie jedes geschaffene Seiende das Nichts übersteigt, so übersteigt Gott jedes geschaffene Seiende. (..) (n. 90)
  Auf eine zweite Weise kann man tiefsinniger aussprechen, was der Weise sagt: «Reichtümer hielt ich im Vergleich zu ihr für nichts». Der Vergleichende faßt nämlich beim Vergleichen das (miteinander) Verglichene wie zwei gewissermaßen geschiedene und voneinander unterschiedene (Dinge). Alles von Gott geschiedene Seiende wird geschieden und unterschieden von Gott, da Gott ja das Sein ist. Was aber vom Sein geschieden und unterschieden ist, ist notwendig nichts. Nichts ist nämlich so sehr nichts wie das vom Sein Geschiedene. Und das ist es, was hier schon gesagt wird: «Reichtümer hielt ich im Vergleich zu ihr für nichts». Es ist also erstens zu bemerken, daß einer, der die Weisheit Gottes hat, alles übrige für nichts hält, und in Wahrheit ist es auch ohne Gott nichts. Zweitens (ist zu bemerken), daß er allein die Weisheit Gottes verdient, der alles übrige für nichts hält. Ein Zeichen der Weisheit Gottes ist es also, alles Geschaffene geringzuschätzen und für nichts zu achten. (n. 91)

  Ich fürchte, hier hat sich Eckhart etwas vergallopiert. Wie könnte Gott seine eigene Schöpfung geringschätzen und für nichts erachten? Zuerst dachte ich an einen Übersetzungsfehler und lese den letzten Satz in der kritischen Edition: "Ein Zeichen für (den Besitz der) Weisheit Gottes ist es, alles Geschaffene gering zu achten und für nichts zu halten" (LW 2, S. 425). Das hört sich doch schon anders an. Aber dann lese ich den lateinischen Text: "Signum ergo sapientiae dei est, omnia creata vilipendere et nihil aestimare" (LW 2, 425,1-2) und muß Albert zugute halten, dass er hier sauberer übersetzt als Koch, der die ansonsten unverständliche Aussage noch interpretatorisch hinbiegen will. Aber wer weiß, vielleicht hatte Eckhart tatsächlich das gemeint, was Koch übersetzte. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum der Verfasser des Inhaltsverzeichnisses zu diesem Vers keinen Kommentar abgibt. [21.12.06]

Unauslöschlich ist ihr Leuchten (V. 10)

  Das kann zweifach aufgefaßt werden: erstens von der ungeschaffenen Weisheit, zweitens von der (den Menschen) mitgeteilten Weisheit (sapientia participata). Wenn es auf die erste Weise (aufgefaßt wird), so ist (das angeführte Wort) klar. Dieses Licht nämlich, die Weisheit, Gott, als der Erste und Höchste von allem, da ja das Erste immer am meisten (von allen Beschaffenheiten) hat, dieses Licht kann nicht ausgelöscht oder durch ein anderes größeres Licht verdeckt werden, etwa auf die Weise, wie das Licht eines Sterns vom Licht der Sonne verdeckt wird, sondern eher umgekehrt. (..) Und Jakobus 1 (V. 17): «Bei ihm ist weder Veränderung noch der Schatten eines Wechsels». Jede Veränderung ist nämlich als ein Werden ein Schatten des Seins. (n. 92)
  Auf die zweite Weise wird das vorausgeschickte Wort im Blick auf die (den Menschen) mitgeteilte Weisheit ausgelegt, und es scheint, daß es so im eigentlichen Sinn aufgefaßt wird, einerseits weil es nichts Großes ist, von der ungeschaffenen Weisheit dergleichen zu sagen, andererseits weil Gott eigentlich mehr Licht (lux) ist als Leuchten (lumen). (..) (n. 93)
  Das Licht der Weisheit wird zwar als Licht der Weisheit nicht von den Körpern aufgenommen, jedoch auch nicht von der vernünftigen Seele, insofern sie Natur oder Seiendes in der Natur ist, sondern allein in der Vernunft, insofern sie Vernunft ist, etwas Höheres und Göttliches ist, gemäß dem Wort, daß wir von «Gottes Geschlecht» sind (..) (n. 94)
  (..) Man kann auch sagen, daß das Leuchten der Weisheit, obwohl es in uns erlöschen kann, in sich und aufgrund seines Wesens unauslöschlich ist. Und daß es aufgrund seiner selbst nicht ausgelöscht werden kann, nicht verborgen werden kann, nicht «unter den Scheffel gestellt» werden kann, gemäß dem Wort Lukas 11 (V. 33 u. 35): «Sieh zu, daß das Leuchten, das in dir ist, nicht Finsternis sei». Sieh zu dem zuvor Gesagten im Traktat «Über das Akzidens» nach und weiter unten über das Wort: «Ihre Sittlichkeit verberge ich nicht». (n. 95)

  Die angesprochene Abhandlung "Vide de praemissis in tractatu De accidente .." (S. 429,8) ist die Nr. 14 nach dem Prol. generalis n. 4. [22.1.07]

Es kam mir alles Gute gleich (pariter) mit ihr (V. 11)

  Merke, daß das Wort «pariter» (zugleich) dreifach aufgefaßt werden kann. Erstens so, daß «pariter» dasselbe heißt wie «simul» (zugleich); zweitens so, daß es sich herleitet von «paritas» (Gleichheit); drittens, daß es sich herleitet von dem Verb «pario, paris» (ich gebäre, du gebierst). (..)

  Albert merkt dazu an: "Das lateinische Wort «pariter» (auf gleiche Weise) mit «pario» (gebären) in Verbindung zu bringen, ist charakteristisch für Eckharts abenteuerliches Etymologisieren. Im Deutschen läßt sich das nicht wiedergeben" (S. 156, Anm. 91).

  Was das erste betrifft, so ist der Sinn: Alles Gute kam mir zugleich und sofort, ohne Nacheinander oder in Stücken mit der Weisheit zu (..). Zu wem nämlich Gott kommt, zu dem kommt notwendig alles Gute (..). In ihm ist nämlich in gleicher Weise alles, und auch er selbst ist in gleicher Weise alles, und alles ist eins, obwohl er nicht in aller Hinsicht und durch alle aufgenommen wird. (..) Es ist nämlich alles miteinander verbunden in dem Einen, von dem sie sind, in dem Einen, in dem sie sind, und von dem Einen, auf das hin sie (bestimmt) sind. (n. 96)
  Hierzu paßt auch, was die Philosophen, die Heiligen und die Theologen sagen: alle Tugenden seien miteinander verbunden, worüber ich im «Buch der Fragen» gehandelt habe. Gegenwärtig ist jedoch zu bemerken, daß alle Tugenden in der Liebe zum Guten verbunden sind. (..) (n. 97)

  "de quo notavi diffuse in Libro quaestionum" (431,10) - das Buch ist nicht überliefert. Im folgenden Absatz reiht Eckhart die Gedanken aneinander; es wirkt eher wie eine Skizze als ein ausgearbeiteter Text:

  (..) Die Liebe ist nämlich Liebe zum Guten, insofern es gut ist, und das ist Gott, das «gute Gute», «das Gute alles Guten», wie oben Augustinus sagt. Dieses oder jenes Gute, das Gute für diesen oder das Gute für jenen, ist ein Geschaffenes und etwas unterhalb des Guten (selbst), diesseits und außerhalb des Guten (selbst), etwas Eigenes, nichts Gemeinsames, schließt etwas aus, die Liebe aber schließt nichts aus. Augustinus sagt an der oben erwähnten Stelle: «Nimm das Dies und Das weg». Das Dies und Das ist ein Fallstrick, durch den man nicht mehr ein Freier ist, sondern ein Gefangener. Er tut das Gute nicht um seiner selbst willen (sui gratia) - es geschieht also nicht umsonst (gratis) -, sondern wegen eines Dies und Das dient er diesem und jenem, ist er ein Mietling, ein Knecht, kein Sohn des Guten, weil er nicht aus Liebe zum Guten (handelt). (..) Das Dies und Das ist nämlich ein Fallstrick. Psalm (123,7): «Zerrissen ist der Fallstrick, und wir sind befreit». «Wir sind befreit», das heißt: Freie geworden. Vorher hatte es geheißen: «Gepriesen sei der Herr, der uns nicht in Gefangenschaft kommen ließ«, «Unsere Seele wurde dem Fallstrick der Jäger entrissen» (Ps. 123,6 f.). Joh. 8 (V. 32): «Die Wahrheit wird euch frei machen». «Die Wahrheit»: Gott. Joh. 14 (V. 6): «Ich bin die Wahrheit». Das Gute, insofern es gut ist, nicht dieses oder jenes Gute, ist Gott. Lukas 18 (V. 19): «Niemand ist gut, außer allein Gott». Die Liebe, die Liebe zum Guten schlechthin, ist Gott. Joh. 4 (1. Joh. 4,8): «Gott ist die Liebe». Das zum ersten. (n. 98)
  Zweitens: das «gleich» (verstanden) im Sinne von «in gleicher Weise». In Gott ist nämlich das Ungleiche gleich, das Ungleichartige gleichartig. Deswegen sagen die Theologen, daß in Gott die Ideen der ungleichartigen Dinge gleichartig sind, und gemäß Augustinus sind die Ideen selbst der vergänglichen Dinge, etwa die Idee eines eisernen Reifens, unvergänglich und ewig. (..) Und gewiß liebt die vollkommene Liebe alle gleich und aufgrund des Gleichen. Ein Eines, in jeder Hinsicht Einfaches ist nämlich der eine Gott, den sie (d.h. die Liebe) in allem liebt, nichts anderes diesseits von ihm oder außer ihm. (..) Das zum zweiten, nach dem das «gleich» sich ableitet von Gleichheit. (n. 99)

  Aus den folgenden zehn Absätzen (n. 100 - n. 109) möchte ich jeweils nur kurze Zitate anführen (und verzichte im Wesentlichen auf die Auslassungszeichen '(..)'), die dann sozusagen in Eckharts 'Zusammenfassung' in n. 109 münden:

  Drittens leitet sich (das lateinische Wort für «gleich») «pariter» von dem Verb «patio, paris» («gebären», «erzeugen») ab (..) [Es folgt eine Allegorie über das Erzeugen bzw. Anzünden eines Feuers und das erzeugte Feuer]. Der Vater nämlich, das erzeugende Feuer, ist zwar in der Veränderung und im Veränderten, aber er ist dort nicht bleibend, sondern im Übergang und als Gast, und er verweilt nicht. (..) Im erzeugten und geborenen Feuer aber bleibt und verweilt er (d.h. der Vater). Und dort wirkt er nicht mehr die Werke des Angezündeten, sondern die Werke des Feuers. «Der Vater», heißt es, «der in mir bleibt, er tut die Werke». (n. 100)
  Der Vater als Vater ist nicht in dem noch in Veränderung Stehenden, sondern im gezeugten Sohn, und umgekehrt ist der Sohn als Sohn nirgendwo als nur im Vater. Joh. 14 (V. 10): «Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir». Der Vater und der Sohn sind nämlich der Natur, dem Wirken und dem Begreifen nach zugleich. (n. 101)
  Joh. 3 (V. 35): «Der Vater liebt den Sohn». Und Joh. 14 (V. 23): «Mein Vater wird ihn lieben». Und weiter: «Wir werden Wohnung bei ihm nehmen» (Joh. 3,35), ich, der gezeugte Sohn und der zeugende Vater, der in mir bleibt, gemäß dem Wort Joh. 14 (V. 23): «Ich im Vater und der Vater in mir»; Joh. 14 (V. 23): «Der Vater, der in mir bleibt, er tut die Werke»; Joh. 16 (V. 15): «Alles, was der Vater hat, ist mein; und Joh. 17 (V. 10): «Und alles, was mein ist, ist dein, und alles, was dein ist, ist mein». Und das ist es: «Es kam mir alles Gute mit ihr durch die Geburt (pariter)». (n. 102)
  Willst Du also, daß alles Gute, was des Vaters ist, dir zukomme, wie es hier heißt? Willst du eingesetzt werden als «Erbe von allem», wie es Hebr. 1 (V. 2) heißt? Willst du gesetzt werden «über all sein Gut», wie es Matth. 24 (V. 47) heißt? Sei ein Sohn, sei ein Kind Gottes, wie ich oben im 5. Kapitel zu dem Wort «sie sind unter die Söhne Gottes gerechnet» ausgeführt habe. (n. 103)
  Wiederum ist fünftens zu bemerken, daß alles, was ist und was es alles ist, durch das Eine und in dem Einen ist (..) In ihm ist nämlich alles (seiend) und ist gut, außer ihm ist nichts und nichts gut. (n. 104)
  Zweitens merke, daß ein Liebender, der ein Eines liebt, etwa die Gerechtigkeit, nichts anderes liebt (als sie) und nichts, was nicht gerecht ist. Er strebt also allein danach, die Gerechtigkeit vollkommen zu erreichen und in sie verwandelt zu werden, und zwar in ihrem Höchsten, in ihrer Quelle, wo sie als ungezeugte, gebärend oder zeugend ist (..) Im Höchsten ist nämlich in vollkommenster Einheit alles eins, was im Niederen und in sich geteilt ist. (n. 105)
  So also findet der auch nur ein einziges Gut Suchende, insbesondere die Gerechtigkeit, gleichermaßen oder gleich auch die Weisheit und andere Gaben, die er weder suchte noch bedachte noch erstrebte, gemäß dem Wort Isaias 64 (65,1) und Röm. 10 (V. 20): «Es fanden mich, die mich nicht suchten», wie ich dort zu Röm. 10 ausführlich bemerkt habe. So also findet er (d.h. der Suchende) in einem einzigen Gut alles und es kommt zu ihm alles in einem einzigen, sage ich, im Einen, d.h. wo dies Gute und das Gute, Gerechtigkeit, Weisheit und anderes dergleichen eins sind. Das ist das Eine, in dem Gott wohnt, in dem und durch das er uns mit sich vereint. In diesem Einen wird Gott gefunden, dort lehrt und wirkt er alles. Deswegen sagt der Psalm (132,1): «Wie gut und wie erfreulich, wenn Brüder im Einen wohnen». Und weiter unten: «Dort spendet der Herr Segen» usw., wie ich in der Auslegung dieses Verses ausführlicher bemerkt habe. (n. 106)

  "sicut ibidem Rom. 10 diffuse notavi" (442,11) und "sicut in expositione illius plenius notavi" (443,3). Auslegungen zu diesen beiden Stellen sind nicht bekannt resp. nicht erhalten, auch wenn es sich so anhört, als hätte es sie einmal gegeben. Ähnlich äußert sich Eckhart zu Psalm 132,1,3 jedoch im Kommentar zum Johannes-Evangelium: "Darum sagt der Psalmist sehr schön: 'es ist lieblich, wenn Brüder in einem vereint wohnen', 'denn da hat der Herr den Segen entboten' (Ps. 132,1.3); in einem, das heißt, in dem einen, wo wir ein Leib sind, in Christus. Darum also werden und sind alle guten Werke, die durch heilige und göttliche Menschen getan werden und getan sind, durch jeden heiligen und göttlichen Menschen getan; sie sind getan, sage ich, ehe er ein göttlicher oder heiliger Mensch wurde, nach dem Wort: 'bevor Abraham wurde, bin ich' (8,58). In Gott sind ja alle, die göttlich sind, eins, Gott ist einer, 'er wirkt alles in allen' (1. Kor. 12,6; vgl. 1. Kor. 15,28). Deshalb bittet Christus, in dem und durch den wir eins sind, den Vater: 'alle mögen eins sein, wie du Vater in mir bist und ich in dir bin' (17,21)." (LW 3, S. 326, n. 383)

  Das Sein aber ist Gott oder ist unmittelbar von ihm, und unter dem Mantel des Einen vereint sich Gott mit allem und ist in allem, und unter dem Mantel und der Eigentümlichkeit des Einen erfaßt umgekehrt jedes Ding Gott. In diesem Einen verbinden sich Gott und die Seele, ja sogar Gott und alles. (..) Das Sein aber steht immer im Einen. Das Viele als das Viele ist nämlich nicht (seiend). Deswegen ist die Zeit, weil zu ihrem Wesen die Zahl gehört, nicht draußen in den Dingen, noch ist Gott in der Zeit. (n. 107)
  er die Gerechtigkeit Suchende erstrebt und sucht und verlangt nichts von der Weisheit, und er weiß nicht, daß die Gerechtigkeit in ihrer Vollkommenheit auch die Weisheit oder die Mutter der Weisheit ist. (..) Ein sinnfälliges Beispiel besteht in vielen so geschickt miteinander verbundenen Gefäßen, daß es unmöglich ist, ein einziges zu füllen, ohne daß alle gefüllt werden, und wenn eines gefüllt ist, daß zugleich alle gefüllt sind. (n. 108)
  Aus all dem zuvor Gesagten merke gegenwärtig zweierlei. Das erste ist, daß wer Gott hat, alles hat, Tobias 10 (V. 5): «alles in dir, dem Einen, habend». 1. Kor. 3 (V. 22): «Alles ist euer» - und so ist er reich, weil alles sein ist. Wer aber Gott nicht hat, ist arm und hat nichts. Oben hieß es: «Reichtümer hielt ich für nichts». Offenb. (3,17): «Du sagst, ich bin reich, und weißt nicht, daß du bist (elend)» usw.
  Zweitens ist zu bemerken, daß jeder, der Gott wahrhaft und eigentlich liebt, alles liebt und zugleich und in gleicher Weise alles und jedes wie alles und alles so, wie sich selbst, d.h. ebensosehr wie sich selbst - das nämlich bedeutet das «so, wie» - wiederum auch so sehr sich selbst und jedes wie Gott, wie oben in der zweiten Auslegung gesagt wurde. Wenn nicht, so liebt er Gott nicht in allem und nicht alles in Gott, sondern etwas anderes in allem und etwas anderes in Gott und außer Gott. (n. 109) [24.1.07]

(V. 11)

  

  

  

(V. 12)

  

  

  

(V. 13)

  

  

  

(V. 24)

  

  

  

(V. 25)

  

  

  

(V. 26)

  

  

  

(V. 27a)

  

  

  

(V. 27b)

  

  

  

1 Die Übersetzung des Sapientia-Kommentars entspricht dem Abdruck bei Karl Albert [Albert]. Kleinere Tipp- bzw. Setzfehler wurden korrigiert. Seine Angaben in () habe ich eingerückt, d.h. in etwas kleinerem Format gesetzt. Seine Anmerkungen sind mit der Seitenangabe versehen. Soweit ich die lateinische Edition zitiere, ist diese in Klammern mit der Seitenzahl und Zeile angegeben (z.B. 432,5).
  Ich bin mir nicht sicher, welche der beiden Übersetzungen (Alberts oder der kritischen Edition) die 'bessere' ist. Beide haben ihre Vor- und Nachteile.
  Der Kommentar ist in den 'Überschriften' mit dem Inhaltsverzeichnis (nach der Edition) verknüpft. Man kann also auf den jeweiligen Verstext klicken und sich die Zusammenfassung des Verfassers des Inhaltsverzeichnisses zum jeweiligen Text durchlesen und von dort wieder hierher zurückkehren.
  Die von mir hier und jetzt getroffene Auswahl aus dem Kommentar ist natürlich subjektiv und zeitabhängig. In fünf Jahren würde sie wahrscheinlich anders aussehen. Wenn sie aber dazu führt, dass jemand sich dadurch animiert fühlt, sich wahlweise den Albertschen Text zuzulegen oder die kritische Edition zu Gemüte zu führen, hat sie ihren Zweck erreicht. [24.1.07]

Edition
  Expositio libri sapientiae, herausgegeben und übersetzt in Verbindung mit Heribert Fischer von Josef Koch, in: LW 2, S. 323-634.

Beschreibung
  In der ältesten Handschrift mit lateinischen Texten Eckharts, dem Codex mit der Signatur CA (Cod. Amplon.) 2° 181 ('E' - Mischhandschrift Pergament und Papier) finden sich (in dieser Reihenfolge) die Prologi, die Kommentare zu Genesis und Exodus, die Sermones et Lectiones, ein zweiter Prolog zum Opus expositionum, der Sapientia-Kommentar und das Inhaltsverzeichnis dazu. Von den drei Kommentaren ist nur der zu Sapientia (in Bezug auf die Fassungen in der Hs. 'C' von 1444) nahezu vollständig ausgearbeitet, was bedeutet, dass Eckhart ihn im Wesentlichen als abgeschlossen betrachtete, während er den Genesis-Kommentar später noch um etwa ein Drittel erweiterte und der Exodus-Kommentar gerade erst begonnen war. Interessanterweise befindet sich die Sapientia-Fassung (Bl. 21v-46v) bis Blatt 38 auf Pergament und die letzten sieben Blätter auf Papier, dass aufgrund des Wasserzeichens auf die Jahre 1320-29 datiert werden kann.

Datierung
  Koch kam aufgrund eines von Eckhart in Sapientia (n. 185 - s. Werk) gegebenen Verweises zu dem Ergebnis, "daß die Sermones et Lectiones super Eccli. 24 vor die Expositio Libri Sapientiae" gehören (LW 3, S. XVIII). Das legt auch die Reihenfolge der Schriften nahe (s.o.). Da die Sermones et Lectiones vermutlich 1303 und 1304 gehalten wurden, wird Eckhart mit der Arbeit am Kommentar wohl im Anschluß daran begonnen haben.
  Steer datiert den Kommentar aufgrund der Untersuchung Sturleses (s. Quellen) in seiner Chronologie auf 1305. Einen weiteren Hinweis liefert Predigt 6 (Quint), die sich auf Sap. 5,16 bezieht und zu der Quint sagt: "In seinem Sapientia-Kommentar entwickelt E. bei der Behandlung der unserer Predigt zugrundeliegenden Textstelle weitgehend die gleichen Gedanken" [S. 476]. In dieser Predigt sagt Eckhart: "Mein leiblicher Vater ist nicht eigentlich mein Vater, sondern nur mit einem kleinen Stückchen seiner Natur, und ich bin getrennt von ihm: er kann tot sein und ich leben" (DW 1, S. 454). Am 19. Mai 1305 siegelt er eine Urkunde, die sich auf den verstorbenen Herrn Ritter Eckehard von Hochheim, seinem vermutlich leiblichen Vater, bezieht.
  Demnach ist es wahrscheinlich, dass Eckhart die Predigt (am 30. Juli) 1305 hielt und in der Bearbeitung von Sapientia mit dem Kommentar zum 5. Kapitel beschäftigt war. Das bedeutet aber auch, dass die Bearbeitung noch längst nicht abgeschlossen war. Wie lange sie sich noch hinzog, ist vorerst unbekannt, aber man kann wohl davon ausgehen, dass sie ihn zumindest bis zum Ende seines Provinzialats 1310 beschäftigt haben dürfte. [7.1.08]