Zum Holzschnitt

von Nils-Arvid Bringéus
tsymbol
  "Nicht nur eine geänderte Jahreszahl kann einem Bild ein altertümlicheres Gepräge verleihen. Auch eine Beschneidung des Bildes kann eine derartige Wirkung hervorrufen, wie ein Vergleich zwischen den beiden Holzschnitten auf Abbildung 1 und 2 zeigt. Der "obere" erweckt den Eindruck, aus dem 16. oder möglicherweise 17. Jahrhundert zu stammen. Die Umrahmung auf Bild 2 zeigt dagegen durch ihren neugotischen Charakter, daß es sich um ein Werk des 19. Jahrhunderts handeln muß.
Wie läßt sich das erklären?

1 Holzschnitt als Illustration in einer populärwissenschaftlichen Darstellung des Astronomen Bruno H. Bürgel
  Der Mann, der durch die Himmelskuppe schaut (Abb. 1), wurde zuerst in einer Arbeit von 1903 mit dem Titel »Weltall und Menschheit« bekannt. Der schweizer. Kunsthistoriker Bruno Weber stellte fest, daß das Bild seitdem in mindestens 75 vornehmlich populärwissenschaftlichen Publikationen wiedergegeben wurde. Es hat eine faszinierende Ausstrahlung und scheint die Geburtswehen beim Einbruch eines neuen Zeitalters wiederzugeben. Man sah darin eine Illustration des ptolemäischen Weltbildes, ein Bild einer vorkopernikanischen Weltauffassung usw. In einer populärwissenschaftlichen Arbeit gibt der Astronom Bruno H. Bürgel ihm den Namen »Der Zweifler«.
2 Der Originalholzschnitt in Flammarions "L'Atmosphère, météreologie populaire", erschienen in Paris 1888

  Das Original allerdings kannte niemand. Erst Bruno Weber gelang es festzustellen, daß das Bild aus einer Arbeit des französischen Astronomen Camille Flammarion (1842-1925) stammt, die 1888 unter dem Titel »L'Atmosphère, météorologie populaire« in Paris erschien, und zwar dort mit der neugotischen Umrahmung (Abb. 2). Weber konnte zugleich zeigen, daß Flammarion bei einem Ornamentstecher in die Lehre gegangen war und selbst die Skizzen zu den Illustrationen seiner Bücher ausgearbeitet hatte. Offenbar wünschte er einen Textabschnitt mit einem alten Bild zu illustrieren, fand aber keines. Daraufhin beschloß er, selbst ein Bild zu zeichnen. Zu gewissen Einzelheiten wie den vier Rädern können ihn Bibelillustrationen zu Hesekiels (Ezechiels) Vision vom »Rad im Rad« angeregt haben.
  Diese bemerkenswerte Bildmanipulation, die sogar einen so herausragenden Kunsthistoriker wie Erwin Panofsky irregeführt hat, kann man - im Hinblick auf die ihr zugrundeliegende Absicht - wohl kaum eine Fälschung nennen und auch kein Pasticcio, wie Weber es selbst einmal tut; denn darunter versteht man eine getreue Nachbildung der Manier eines Künstlers, die als echt gelten soll. Hingegen ist das Bild ein gutes Beispiel für Archaisierung. Camille Flammarion hat mit großer handwerklicher Geschicklichkeit und gutem Einfühlungsvermögen eine Illustration hergestellt, die dem Stil des 16. Jahrhunderts stark ähnelt. Man kann daher dem Autor, der das Bild als erster im Jahre 1903 entlehnte (Abb. 1) nicht zum Vorwurf machen, daß er darin ein willkommenes Beispiel für eine mittelalterliche phantastische Darstellung des Weltbildes sah (Zschelletzschky 1979, S.118 ff.).
  Noch in dem 1982 erschienenen Buch über Nikolaus von Kues von Ekkehart Meffert begegnet uns das Bild auf Seite 25 als »deutscher Holzschnitt um 1530«.
  Man hat allen Grund, beim Betrachten von Illustrationsmaterial Vorsicht walten zu lassen, nicht zuletzt in Lehrbüchern, wo es oft archaisierend und voll anachronistischer Einzelheiten ist."

Nils-Arvid Bringéus, Volkstümliche Bilderkunde, Callwey München 1982, S. 84.

  Den Hinweis darauf, daß es sich eben nicht um einen Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert handelt, verdanke ich Herrn Dr. Ludger Fischer, der mir auch die Literatur nannte. Vielen Dank nochmal an dieser Stelle.