Tractatus 1
super oratione dominica

vater
Edition Beschreibung Datierung


  1 Vor der Erklärung des Herrngebets merke zweierlei. Erstens, weil wir in göttlichen Dingen träge sind, daher mahnt er uns zuerst, daß wir bitten und beten sollen. Zweitens bringt er uns seine Liebe zu uns nahe; wenn wir nämlich 'noch fern' sind (vgl. Röm. 5,8 und Luk. 15,20), ruft er uns zurück und erweckt uns. Drittens merke seine Güte; denn er ist so gut, daß Geben für ihn eine Notwendigkeit ist. Viertens ist zu bemerken, daß nichts Zeitliches von Gott erbeten werden darf.
  Erstens, weil das Gebet des Herrn selbst nichts dergleichen enthält. Zweitens, wie sollten wir um das bitten, was gerade der, den wir bitten, überall zu verachten lehrt? Drittens, weil es Gott, der ewig ist, nicht ziemt, dergleichen zu geben. Viertens, weil das Zeitliche, besonders im Hinblick auf das Ewige (vgl. 2. Kor. 4,18), nichts ist; um nichts beten aber heißt ins Leere beten.
  2 Vater. Merke zuerst aus Chrysostomus, daß Gott mehr geliebt als gefürchtet sein will; daher sagt er unser Vater, nicht 'unser Herr'. Zweitens (sagt er Vater), damit wir wissen, daß 'er uns Macht gegeben hat, Söhne Gottes zu werden' (Joh. 1,12). Folglich drittens, daß wir 'wenn Söhne, auch Erben' sind (Röm. 8,17). Viertens: "wer Vater gesagt hat, hat mit dieser einen Anrede die Vergebung der Sünden, die Annahme an Sohnes Statt, die Erbschaft, die Bruderschaft, die zu dem Eingeborenen hin besteht, und das reiche Geschenk des Geistes bekannt." Fünftens: wir sollen Gottes Ehre lieben und ihr Gegenteil soll uns schmerzen, wo immer es einträte, wie es Söhnen beim eigenen Vater geht. Sechstens, um uns Zutrauen zu geben, daß wir etwas erlangen; denn Väter pflegen ihre Söhne zu erhören nach dem Wort: 'bittet, so werdet ihr empfangen' (Matth. 7,7) und ferner: 'alles, was ihr bitten werdet in eurem Gebet, glaubt' usw. (Mark. 11,24).
  3 Unser. Merke zuerst: er sagt nicht 'mein'; denn das Gebet gefällt sehr, welches die Liebe und nicht die Not hervorruft. Zweitens, weil, wie Hieronymus sagt, ein Gebet desto wirksamer ist, je gemeinsamer es ist. Drittens, weil er nicht nur mein oder dein oder jedermanns Vater ist, sondern weil von ihm 'alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat' (Eph. 3,15). Viertens, damit wir eingedenk seien, daß alle unsere Brüder und 'Miterben' sind (Röm. 8,17), und damit wir sie so lieben, ihnen so nachgehen wie Brüdern, nach dem Wort: 'Ihr seid alle Brüder' (Matth. 23,8).
  4 Der du bist im Himmel. Merke zuerst, daß Chrysostomus sagt: "Wir sollen uns schämen, uns irdischen Dingen hinzugeben, da wir doch wissen, daß wir einen Vater im Himmel haben!" Zweitens (merke) aus der ersten Rede des Abtes Isaak, "daß wir das gegenwärtige Leben, das wir auf Erden verbringen, voller Abscheu meiden sollen, da es uns ja weit von unserem Vater trennt"; wie der Psalm sagt: 'weh mir, denn mein Wohnen hienieden währt schon so lange' (Ps. 119,5). Drittens (merke) aus demselben Verfasser, daß wir voller Sehnsucht nach jenem Lande eilen sollen, in dem wir, wie wir bekennen, einen Vater haben; nach den Worten des Psalms: 'an den Flüssen Babylons' usw. (Ps. 136,1). Viertens (merke) aus demselben, daß wir nichts zulassen sollen, wodurch wir eines Erbes und Adels von solcher Würde beraubt würden. Fünftens sage: das ist gesagt, auf daß wir Himmel oder besser 'Himmel der Himmel' seien (l. Kön. 8,27), wenn wir wollen, daß Gott als Vater in uns ist. Sechstens sagt Chrysostomus in einer Predigt: "wenn er spricht im Himmel, so sagt er das nicht, um Gott dort einzuschließen. sondern um den Beter von der Erde fortzuziehen und ihn an höhere Sphären zu ketten." Siebentens sagt Augustin in der Schrift Über die Bergpredigt: "im Himmel, d. h. in den Heiligen und Gerechten". Denn geistlich ist der Abstand zwischen Gerechten und Sündern ebenso groß, wie leiblich der zwischen Himmel und Erde. Achtens Augustin ebendort: "im Himmel sagt er, damit der Geist gemahnt wird, sich einer herrlicheren Natur, nämlich Gott, zuzuwenden, wenn sein erdhafter Leib einem erhabeneren Leib, nämlich dem himmlischen Leib, zugekehrt wird". Neuntens: "es ziemt sich, daß in aller Sinn, der Kleinen wie der Großen, richtig über Gott gedacht wird; und daher ist die Vorstellung derer, die noch nichts Unkörperliches von Gott denken können, erträglicher, wenn sie glauben, daß Gott eher im Himmel als auf Erden ist."
  5 Geheiligt werde dein Name, "das heißt er werde so bekannt, daß von allen nichts für heiliger geachtet werde". Zweitens: dein Name werde geheiligt, d. h. verherrlicht, nämlich so, daß wir in allen Dingen "an die Ehre unseres Vaters unsere ganze Leidenschaft wenden" und "so bezeugen, daß unsere Sehnsucht, unsere Freude die Ehre unseres Vaters ist": 'wer die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und in ihm ist keine Ungerechtigkeit' (Joh. 7,18). So wünscht Paulus zum Fluch gemacht zu werden von Christus Jesus weg (Röm. 9,3), damit "zur Ehre des Vaters das Heil des ganzen israelitischen Volkes wachse. Denn ohne Schwanken und Zagen wünscht er für Christus zu Grunde zu gehen, da er weiß, daß niemand für das Leben sterben kann". Drittens so: geheiligt werde dein Name, das heißt "mach uns zu solchen, Vater, daß wir verdienen, die Größe deiner Heiligung zu erkennen oder aufzufassen". Viertens so: geheiligt werde dein Name, das heißt so laß uns leben, daß durch unseren Wandel dein Name verherrlicht und geheiligt werde: 'sie mögen eure guten Werke sehen und euren Vater rühmen' (Matth. 5,16). Fünftens: geheiligt werde dein Name, das heißt "durch unaufhörliche Heiligung" soll in uns gereinigt werden, worin "wir täglich fehlen", "so daß (dein Name) geheiligt", d. h. als der heilige "in uns" erhalten werde. Sechstens sage: Gottes Name werde geheiligt, wenn unser Wissen von Gott in Leidenschaft und Wirkenskraft widerstrahlt. Siebentens beten wir, "daß wir, die wir ihn als den Heiligen kennen, ihn fürchten und eifrig darüber wachen, daß wir nicht etwa die Heiligkeit seines Namens in uns durch böse Taten verletzen".
  6 Dein Reich komme. Passend steht vorher: 'dein Name werde geheiligt', denn nach Hieronymus "zeugt es von großer Kühnheit und reinem Gewissen, das Reich Gottes herbeizuwünschen und sein Gericht nicht zu fürchten".
  Dein Reich komme. Erstens, damit nach Vertreibung des Teufels durch Ausrottung der Laster "Gott in uns" oder besser in der ganzen Welt "durch den Duft der Tugenden" herrsche. Zweitens spricht er von dem künftigen Reich, von dem (es heißt): 'kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz' (Matth. 25,34). "Denn der Heilige weiß durch das Zeugnis seines Gewissens, daß er an bem Reich Gottes, wenn es erscheint, teilnehmen wird."
  Er sagt aber dein. Denn Gott ist ewig (Dan. 6,26), Geist im eigentlichen Sinne (Joh. 4,24); sein Reich ist nicht körperlich, zeitlich oder dergleichen, sondern erhabener. Oder zweitens: er sagt dein, denn im Geist, in der Ewigkeit und dergleichen zeigt sich das Reich, nämlich die Macht, die Weisheit, die Güte, der Reichtum und die Ehre Gottes.
  7 Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Bei dieser Bitte ist erstens zu bemerken, daß die Wendung wie im Himmel, also auch auf Erden sich nach Chrysostomus auf die bereits vorangehende erste, zweite und dritte Bitte gemeinsam bezieht. Zweitens: er sagt nicht 'heilige' oder 'laßt uns heiligen', noch sagt er 'führe dein Reich herbei' oder 'wir wollen dein Reich empfangen', noch sagt er ferner 'tue' oder 'mögen wir deinen Willen tun', sondern er hat alles dies unpersönlich ausgedrückt: es werde geheiligt, es komme, es geschehe. Wiederum ist zu bemerken, daß er nicht sagt: 'dein Name werde in mir geheiligt', noch 'dein Reich komme in mir' oder 'dein Wille geschehe in mir', sondern ganz allgemein: er werde geheiligt, es komme, es geschehe; so lehrt er uns für den ganzen Erdkreis beten. Drittens ist die Folge der dritten Bitte auf die zweite zu bemerken. "Denn weil er mit den Worten 'dein Reich komme' gelehrt hat, nach dem Himmlischen zu trachten, heißt er nun, auch schon bevor man zum Himmel gelangt ist, die Erde selbst zum Himmel werden, indem er sagt: "dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden": "der Irrtum soll zerstreut, die Wahrheit gepflanzt, die Bosheit vertrieben werden und die Tugend soll zurückkehren; dann wird sich der Himmel überhaupt nicht mehr von der Erde unterscheiden." Das ist die erste Auslegung dieser dritten Bitte.
  8 Zum Zweiten sage, daß er wünscht, "daß alles Irdische dem Himmlischen gleich werden möchte", so daß Gottes Wille, gleichwie er von den Engeln im Himmel erfüllt wird, auch von allen Menschen auf Erden erfüllt wird. Darum können wir aber leicht bitten, wenn wir glauben, daß Gott für uns eifriger sorgt, als wir das selbst tun.
  Drittens: Gottes Wille ist unser Heil, nach dem Wort: 'er will, daß alle Menschen das Heil erlangen' (1. Tim. 2,4). Wir beten also, um errettet zu werden oder um das Heil wenn wir sagen: dein Wille geschehe usw., damit gleich wie die im Himmel das Heil besitzen, auch die auf der Erde das Heil erlangen. Daher wird 'dein Reich komme' vorangestellt; denn sobald dies Reich, sei es hier durch die Gnade, sei es künftig in der Herrlichkeit, kommt, wird Gottes Wille auf Erden wie im Himmel geschehen.
  9 Viertens: wie im Himmel, das heißt in den Gerechten, also auch auf Erden, das heißt in den Sündern. Fünftens betet er, daß die Vergeltung für Gute und Böse stattfinden möge. Das wird beim jüngsten Gericht geschehen, dessen Zukunft er herbeiwünscht, damit so das Reich Gottes komme. Sechstens: Himmel und Erde ist Geist und Fleisch. Er betet also, daß wie die Vernunft oder der Geist Gott gehorchen, so auch das Fleisch dem Geist (gehorchen möge). Siebentens, daß (Gottes Wille) wie in Christus, so auch in der ganzen Kirche (geschehe). Achtens sage, er betet, daß, wie wir in der Vernunft, im Geist das Reich Gottes schon jetzt ergreifen, so auch auf Erden, das heißt an unserem bei der Auferstehung verklärten Leib der Wille Gottes; das heißt das Heil des Geistes und des Leibes, geschehen möge.
  10 Unser tägliches Brot gib uns heute: das überwesentliche Brot gib uns heute, so nach Matth. 6,11; Luk. 11,3 heißt es: unser tägliches Brot gib uns heute. Chrysostomus verwendet auch in der Auslegung des Matthäus das Wort täglich. Er legt es aber vierfach aus. Erstens so: laß unser täglich Brot, von dem wir uns täglich nähren, heute ohne Sünde uns verschaffen oder zu uns nehmen. Denn was ohne Sünde und gerecht genommen oder empfangen wird, das gibt in jedem Falle Gott. Was aber schlecht (erworben wird), wird in keinem Falle von Gott, sondern von der Begierde oder vom Teufel gegeben. Zweitens (erklärt er) so: unser Brot, nämlich das, das wir schon haben, gib uns heute, das tägliche, das heißt das geheiligte oder gesunde oder gesegnete; und damit stimmt jene Lesart bei Matthäus überein: unser Brot, nämlich das überwesentliche, gib uns heute. Drittens (sagt er) so: unser tägliches Brot gib uns, das heißt gib uns täglich für heute, das heißt für diesen einen Tag, damit wir nämlich nicht heute oder an einem Tage ausgeben, was uns für hundert Tage oder für hundert Menschen an einem Tage genügen würde, sondern gib uns unser Brot heute für den täglichen Bedarf oder den Tagesbedarf heute, das heißt täglich für heute oder für diesen Tag. Viertens (deutet er) so: unser tägliches Brot gib uns heute, d. h. soviel möglich ist; wir sollten nämlich nicht mehr haben wollen, als das tägliche Brot!
  11 Daß er aber unser sagt, legt Chrysostomus an der obigen Steile zu Matth. 6 zweifach aus. Erstens (ist das gesagt), damit wir das Brot, das uns gegeben wird, nicht allein essen, sondern auch andere Bedürftige daran teilhaben, auf daß keiner sage: 'mein Brot, mir für mich gegeben', sondern unser, gleichsam mir und anderen durch mich und mir durch andere gegeben. Ferner aber, weil Brot und alles der Art, was für dies gegenwärtige Leben notwendig ist, uns mit anderen (gemeinsam) und um anderer willen und anderen in uns gegeben ist. Wer dem anderen nicht gibt, was des anderen ist, ißt nicht sein Brot, sondern fremdes, zugleich mit dem seinen. Ferner: wenn wir gerecht erworbenes Brot essen, essen wir in jedem Falle unser Brot; wenn wir aber übel und mit Sünde erworbenes (Brot) essen, essen wir nicht unser Brot, sondern fremdes; denn alles, was wir zu Unrecht haben, ist nicht unser.
  Unser Brot: oder sage, daß wir beten, es möge uns heute das tägliche Brot gegeben werden, das heißt (das Brot, das wir) für jeden Tag (brauchen), nämlich so, daß wir nicht von Tag zu Tag besorgt zu sein brauchen, wenn wir das für den Lebensunterhalt Notwendige haben. Und darauf spielt das Hebräerevangelium an, das nach Hieronymus, wie in der Glosse zu Matth. 6 steht, so lautet: 'unser morgiges Brot gib uns heute'.
  12 Zweitens sage: unser tägliches Brot gib uns heute, nämlich das, dessen wir täglich bedürfen, wie schon oben ausgeführt worden ist. Gib uns heute, das heißt gegenwärtig oder solange wir in dieser gegenwärtigen Welt als Pilger wandern oder des stofflichen Brotes bedürfen, solange wir dem Tod und dem Leiden unterworfen sind. Darauf spielt die Glosse an, wo schon früher aus den Unterredungen der Väter geschöpft ist.
  Es ist aber zu bemerken, daß nach Augustins Schrift An die Proba über das Beten zu Gott "mit dem Wort Brot als dem wichtigsten Bestandteil" die Notdurft für das gegenwärtige Leben ausgedrückt wird. "Denn die Lebensnotdurft will niemand unbescheiden, der nur sie will und nicht mehr", wie er dort sagt; in dieser Weise wird auch an der Stelle: 'ihr sollt auch nicht zwei Röcke haben' (Luk. 9,3) mit dem Wort "Rock" die nötige Kleidung ausgedrückt.
  Wiederum traf dieses Wort auch auf die Apostel zu, "die um des Lehrens willen alle Zeit umherreisten", so daß sie sich so nichts für den morgigen Tag aufsparten.
  13 Drittens sage: daß mit dem Wort Brot nach der Stelle: 'der Mensch lebt nicht vom Brot allein' usw. (Luk. 4,4) die himmlische Lehre, Eingebung ober Erleuchtung bezeichnet wird.
  Daher schreibt Matthäus: unser überwesentliches Brot, das Gott selbst ist, der immer alle und alles nährt. Oder (man erklärt es) wieder anders nach dem Wort: 'ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen' (Joh. 6,51). Denn Christus nährt, sofern er Gott ist, alles.
  Bis zu dieser Stunde (tut er das) in dem Sakrament seines Leibes, dessen wir täglich teilhaftig zu werden verlangen, wenn wir sagen: unser Brot usw. Es ist kein Einwand dagegen, wenn wir dieses Sakrament nicht täglich nehmen, wir werden seiner nichtsdestoweniger dennoch teilhaftig, wenn wir in der Liebe sind und ein Leib sind mit denen, die das Abendmahl nehmen, wo immer sie sein mögen.
  14 Ferner aber merke, daß er nicht um Geld ober Genüsse, sondern um Brot bitten heißt: unser tägliches Brot gib uns heute. "Denn nur um die göttliche Speise darf ein Jünger Christi bitten, damit wir nicht danach trachten, lange in dieser Welt zu bleiben, wo wir doch bitten, daß das Reich Gottes schnell kommen möge", indem wir sagen: 'dein Reich komme' nach dem Wort: 'weh mir, denn mein Wohnen' usw. ('hienieden währt schon so lange') (Ps. 119,5) und ferner: 'ich wünsche abzuscheiden' usw. (Phil. 1,23).
  Oder sage: das Brot, das heute, das heißt in Ewigkeit, das immer heute ist, gib uns. Oder: das überwesentliche Brot gib uns heute, das heißt in Ewigkeit. Daher heißt es: 'heute habe ich dich gezeugt' (Ps. 2,7). Augustin sagt im 11. Buch der Bekenntnisse, in Kap. 6 (= 13) gegen Ende: "deine Jahre sind (wie) ein Tag, und dein Tag ist nicht täglich, sondern heutig; denn dein heutiger Tag weicht nicht vor dem morgenden; denn er folgt auch nicht auf den gestrigen: dein Heute ist die Ewigkeit. Daher hast du den als den Mitewigen gezeugt, zu dem du gesagt hast: 'heute habe ich dich gezeugt'."
  Um Zeitliches heißt er bitten, um gegen die Manichäer darzutun, daß nicht nur das Geistliche, sondern auch das Zeitliche von Gott, dem ersten Ursprung, her ist. Ebenso sollen wir nicht gesalzenes Brot, nicht mit Köstlichkeiten (gewürztes) erbitten. Ebenso sollen wir wissen, daß auch die kleinsten Güter uns von Gott geschenkt werden.
  15 Und vergib uns unsere Schuld. Merke: er teilt uns die Form des Betens mit; er bildet unseren Charakter; er beseitigt Zorn und Trauer, die Wurzel der Übel, und (er zeigt uns) die Art und Weise, in der wir betend das Verlangte erhalten und den göttlichen Zorn oder den Urteilsspruch über uns mildern können, wenn er sagt: vergib usw.
  Unseren Schuldigern aber sagt er aus zwei Gründen. Erstens, weil es nach Chrysostomus "lobenswert ist, wenn einer ihm angetanenes Unrecht geduldig trägt, Unrecht gegen Gott zu vertuschen ist aber allzu ruchlos". Zweitens, weil viele geneigt sind, dem Nächsten oder auch Gott zugefügtes Unrecht zu vergeben, selbst erfahrenes Unrecht aber vergeben sie nicht ebenso schnell. Drittens merke: wenn der Beleidigte, der seinem Schuldiger nicht vergibt, fruchtlos betet, was soll man dann von dem Gebet des Beleidigenden halten?
  Viertens merke, daß manche Menschen diese Einschränkung: wie auch wir vergeben überspringen. Das sind "Toren. Erstens: denn derjenige, der nicht so betet, wie es Christus gelehrt hat, ist kein Christ noch Christi Jünger. Zweitens: weil auch der Vater ein Gebet nicht gern erhört, das der Sohn nicht vorgeschrieben hat". Drittens: weil der Vater nicht die Worte, sondern vielmehr den Sinn des Sohnes ansieht und aufnimmt. "Das Gebet also kannst du sprechen, aber Gott täuschen kannst du nicht."
  16 Ferner aber ist bei dieser fünften Bitte: vergib uns usw. viererlei zu bemerken. Erstens wird, wer Gott zum Vater hat, "damit er nicht als scheinbar Unschuldiger Wohlgefallen an sich habe und durch Überhebung um so sicherer verloren gehe, darüber belehrt, daß er täglich sündigt; denn wir erhalten den Befehl, täglich um Vergebung zu bitten", indem wir sagen: vergib uns. Zweitens wird uns Gottes väterliches Erbarmen nahegebracht, "denn der uns gelehrt hat, für unsere Sünden zu beten, hat uns damit sicherlich Erbarmen verheißen". Drittens: er sagt nicht: 'wie wir vergeben werden', sondern wie wir vergeben.
  Denn Gott will nur vergeben, wenn wir zuerst vergeben. Viertens ist zu bemerken, daß uns durch diese Bitte nicht befohlen wird, unsere Feinde zu lieben. Denn Gott will, daß wir vergeben, wie er uns vergibt. Er aber vergibt uns, wenn wir bitten und um Vergebung beten. Es genügt also, wenn wir dem vergeben, der bittet und Vergebung heischt. "Aber wer den, gegen den er gesündigt hat, um Verzeihung bittet", "kann nicht mehr als Feind gelten". Daher sagt Augustin im Handbuch, die Feindesliebe "sei nicht Sache einer so großen Menge, wie wir glauben, daß sie erhört werde, wenn es im Gebet heißt: vergib uns, wie auch wir vergeben".
  Wiederum ist zu bemerken, daß er in den ersten Bitten, als er von dem, was Gottes ist, spricht, in der Einzahl redet: 'dein Name', 'dein Reich', 'dein Wille'. Bei den vier anderen redet er in der Mehrzahl: 'unser Brot', 'unsere Schuld', 'führe uns nicht', 'erlöse uns'.
  17 Und führe uns nicht in Versuchung, sechste Bitte. Merke erstens: wir beten nicht, daß wir nicht versucht werden. "Denn versucht worden ist Hiob", "versucht worden sind Abraham und Joseph" um der Vermehrung ihres Verdienstes und um des Siegeskranzes willen. Sondern wir beten, nicht hineingeführt zu werden, nicht besiegt zu werden; gleich als wenn einer beten würde, nicht von dem Feuer nicht berührt zu werden, sondern nicht verbrannt zu werden. Zweitens wird hier angedeutet, "daß der Widersacher uns nur versuchen kann, wenn Gott es zuläßt, damit alle unsere Furcht in gleicher Weise wie unsere Andacht sich Gott zukehre". Daher "folgt: 'sondern erlöse uns von dem Übel', das heißt: laß nicht zu, daß wir über unser Vermögen versucht werden, 'sondern schaffe mit der Versuchung zugleich den Ausgang, so daß wir sie ertragen können' (1. Kor. 1O,13)". Ober anders: wenn wir sagen: führe uns nicht in Versuchung, bitten wir um Beharrlichkeit in der Heiligkeit. Ferner aber beten wir zu Gott, uns nicht in Versuchung zu führen, obwohl der selige Jakobus sagt: 'Gott versucht nicht zum Bösen' (Jak. 1,13), denn nach Augustins (Schrift) Von dem Gut der Beharrlichkeit "geschieht nichts, was nicht Gott entweder selbst tut oder geschehen läßt".
  18 Sondern erlöse uns von dem Übel, siebente Bitte. Merke zuerst: wir beten, daß wir zu nichts Bösem, das heißt zu keiner Sünde, verleitet werden mögen, nämlich zu etwas Bösem, insofern es noch nicht getan ist, wenn wir sagen 'führe uns nicht' usw.; jetzt beten wir um Erlösung vom Bösen, das heißt von der schon begangenen Sünde. Zweitens sage: vom Übel, das heißt von der Gefahr der Versuchung. Drittens: vom Bösen, das heißt "vom Teufel, der wegen des Übermaßes seiner Bosheit oder weil er einen unversöhnlichen Krieg gegen uns führt, 'der Böse' heißt". Viertens: vom Übel, das heißt von einem Fehler beim Beten, damit wir nämlich nicht fleischlich oder zeitlich bitten oder beten. "Schämen soll man sich zu erbitten, was man sich nicht schämt zu begehren, und wenn die Begierde siegt, so ist die rechte Sitte, daß wir von diesem Übel der Begierde befreit werden." 'Denn ihr bittet und empfangt nicht, darum weil ihr schlecht bittet' (Jak. 4,3), schlecht, das heißt fleischlich und zeitlich.
  So endet das Vater Unser.

1 Diese Seite entspricht dem Abdruck in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, LW 5, Kohlhammer Stuttgart 1./2. Lfg. 1936 (S. 1-128); 3./4. Lfg. 1988 (129-240), S. 109-129 (zu dieser Edition s. Wirkung - Edition). Die Texteinschübe und Verweise auf Bibelstellen Seebergs in () sind etwas eingerückt. Die Ziffern vor den Absätzen entsprechen der dortigen Nummerierung.

Edition
  Erich Seeberg (Hg.), Tractatus super Oratione Dominica, in: LW 5, S. 102-129.
  "Die Übersetzung fertigte Herr Lic. H. Lammers in Berlin an; sie ist von mir sorgfältig überprüft worden, und ich trage die Verantwortung für sie in ihrer jetzigen Form." (Einleitung, S. 107)

Beschreibung
  Seeberg fertigte seine Edition nach den Handschriften 'C' und 'D' an, wobei er dem Cod. Cus. 21 (C) den Vorzug gab.
  Er zählt diesen Text zu den 'Jugendschriften Eckharts'. Weiter führt er dazu aus: "Im Übrigen ist auf eine gewisse und sachliche Lässigkeit hinzuweisen, die sich durch den Eckhartischen Traktat über das Vaterunser hindurchzieht. Die Sätze sind manchmal unfertig oder abgerissen und werden erst aus der ihnen zugrunde liegenden Quelle voll verständlich; in ihrer Art und Weise spricht sich die Neigung eines Mannes aus, "und so weiter" zu sagen, wenn er erst einmal die Hauptsachen gefunden und vor Augen hat" (S. 106). Eckhart selbst bezieht sich auf diesen Text in seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium: "Über dieses Gebet habe ich schon längst eine besondere Abhandlung geschrieben." [In. Joh. n. 602, LW III, S. 524]

Datierung
  In der Tat, dieser Text liest sich wie das Referat eines Schülers, der dabei durchaus seine eigenen Ideen hat, vor allem, wenn man sich vorstellt, daß er einen Vortrag vor seinen Mitschülern im Orden hält, beobachtet von den Lehrern. Es ist durchaus denkbar, daß dieser Traktat ein Produkt seiner Schulung als Student des Studium naturalium oder des Studium solemne darstellt, d.h., eines Vortrages, den er vor den ihm nachgeordneten Studenten im Predigerorden hielt. Gerade die Stelle mit der Feindesliebe (n. 16), auf die Seeberg schon hinwies (S. 106), läßt als Ort die Schule vermuten, da wohl jeder Lehrer einmal mit der Frage konfrontiert wurde, wie es sich denn damit verhalte. Auch das Thema selbst weist in diese Richtung. Schließlich ist interessant, daß er nur drei Kirchenväter zitiert (während seine anderen Werke Zitate von mannigfachen Personen enthalten), wobei Seeberg vermutet, daß er sämtliche Zitationen einem einzigen Werk entnahm, der Caterna aurea ("Goldene Kette") des Thomas von Aquin, was ein frühes Datum noch wahrscheinlicher macht, da die Kloster-Bibliotheken, auch die der Dominikaner, mit Handschriften nicht eben reichlich bestückt waren.
  Es scheint somit sinnvoll, den Traktat der Schul- und Studienzeit Eckharts zwischen 1280 und 1289 zuzuordnen.