Ketzerschicksale 1

von
Eduard Winter
winter
Joachim von Fiore

Häresie
Orden
Päpste

Marsilius von Padua
Wilhelm von Occam


F. von Raumer, Bettelmönche

Sachsenhausener Appellation

Artikel zu: - Mönchtum
- Bettelorden
- Armutsstreit

Der Ketzervater

Joachim von Fiore (um 1135-1202)
  Am Eingang dieser Galerie mittelalterlicher und neuerer Ketzer steht Joachim von (di) Fiore. Es ist für die Ketzergeschichte paradox und doch auch charakteristisch, daß er in der katholischen Kirche als Seliger gilt. Schon bei ihm ist es notwendig, die Übertünchung zu entfernen, um den kirchlichen Ketzer sichtbar werden zu lassen, der er doch in hohem Maße war. Nicht von ungefähr fällt sein Wirken im ausgehenden 12. Jahrhundert in eine Blütezeit des geistlichen Feudalismus: Die reiche Machtkirche kommt zu ihrer höchsten Vollendung. Aber in welchem Gegensatz steht diese Kirche zum Evangelium, zur Frohen Botschaft Jesu Christi, die sich an die Mühseligen und Beladenen, Unterdrückten und Ausgebeuteten wendet! Was haben diese Herren Prälaten, eng verbunden mit dem mächtigen Adel, dem sie zu meist entstammen, mit dem armen Christus und seinen Aposteln, armen Fischern, zu tun? Dieser offensichtliche Widerstreit erschütterte Joachim von früher Jugend. Er ist um 1135 in Celico bei Cosenza in Kalabrien als Sohn eines Notars (Schreibers) geboren. Joachim wuchs auf dem Lande heran: "Sum homo agricola a juventute mea", bekannte er. Was war aber ein "Landmann" in dem damals von normannischen Feudalherren beherrschten Kalabrien?
  Der junge Joachim wollte den von der katholischen Kirche bekämpften Islam und die Ostkirche an Ort und Stelle kennenlernen. Er reiste deswegen in den Orient und nach Byzanz. Heimgekehrt, zog er sich in die Berge seiner Heimat als Einsiedler zurück, um die Reiseerlebnisse zu verarbeiten. Religiöse Ergriffenheit scheint bereits den jungen Joachim gekennzeichnet zu haben. Er strebte nach Vollendung und glaubte diese nur in einer religiösen Vereinigung, in einem Orden zu finden. Joachim beschäftigte sich deshalb voll Eifer mit dem Leben des heiligen Benedikt und seiner Ordensregel. Aber was war aus dem Benediktinerorden geworden! Die Benediktinerklöster besaßen reichen Grundbesitz, und die Äbte wetteiferten mit dem weltlichen Feudaladel an Prachtaufwand und Herrschgewalt über Tausende von Untertanen, die für die Klöster fronen mußten. Wieder wurde Joachim auf den Widerspruch zum Evangelium gestoßen.
  Konnte ihm die Heilige Schrift Antwort auf die ihn bedrängenden Fragen geben? Er studierte die Bibel und wurde bald zu einem ihrer derzeit besten Kenner.
  Da der Benediktinerorden sich von den Intentionen seines Begründers entfernt hatte, trat Joachim in das Zisterzienserkloster Corazzo ein. 1098 hatte Robert von Molesme den Zisterzienserorden in Burgund ins Leben gerufen, auf Grund einer verschärften Benediktinerregel. Aber es gelang Joachim nicht, selbst als er 1177 Abt des Klosters geworden war, seine Ordensbrüder zu der von ihm gewünschten asketischen Rigorosität zu erziehen, wie er sie für geistliche Menschen, die an der Kirchenreform mitwirken wollten, forderte und wie sie in den Ordensregeln vorgezeichnet war. Er verließ daher sein Kloster und zog sich 1182/83 nach Casamari zurück, um sich ganz dem Studium der Heiligen Schrift zu widmen. Vor allem faszinierte ihn die Apokalypse. Mußte nicht ein völliger Wandel eintreten in der Welt, in die Christus als Heiland gekommen war? Wo aber ist das Heil? In seiner Umwelt vermochte er es jedenfalls nicht zu finden; und die bestehenden Orden hatten sich zu weit vom Geist ihrer Gründer entfernt, um den Weg zum Heil weisen zu können. Das war das Ergebnis von Joachims Studien über die Regel Benedikts. Selbst die Verschärfung der Regel durch Robert hatte wenig gebessert.
  Joachim verließ den Zisterzienserorden und begab sich um 1188 in das Silagebirge. Dort lebte er in strengster Askese, ganz seinen Gesichten hingegeben, die ihm eine neue Weltordnung verhießen. Grundgedanken dazu enthält schon seine in Casamari verfaßte Auslegung der Heiligen Schrift. Namentlich in der Apokalypse sah er seine Vorstellungen bestätigt. Joachim fand Anklang und Nachahmung. Um ihn scharten sich Gefährten, mit denen er in San Giovanni in Fiore einen neuen Orden, die Florenser, gründete. Dieser erhielt 1196 die päpstliche Bestätigung durch Zölestin III. Sein tiefes Eindringen in die Apokalypse erregte allgemeine Bewunderung. Weissagungen waren auch damals hochgeschätzt - nicht zuletzt bei denen, die sich an der Macht befanden und auf Hinweise rechneten, wie die Macht behauptet und erweitert werden konnte.
  So ist es nicht verwunderlich, daß auch der Papst selbst Interesse an Joachims Zukunftsschau zeigte. Es ist ein Schreiben Klemens' III. vom 8. Juni 1186 bekannt [wenn das Datum stimmt, kann es nur Urban III. gewesen sein], worin er Joachim nach Rom zitiert und ihn auffordert, seinen Apokalypsenkommentar abzuschließen und zur Beurteilung vorzulegen. Joachim dürfe nichts im Verborgenen zurückhalten, fordert der Papst, sondern solle alles offen darlegen. Neben Wißbegier klingt hierbei deutliches Mißtrauen durch, obwohl Joachim immer seine Rechtgläubigkeit betonte und an seiner religiösen Ergriffenheit, an seiner Verehrung der Heiligen Schrift und seiner Liebe zu Christus kein Zweifel sein konnte. Christus schien ihm durch die scholastische Trinitätslehre zuwenig hoch gewertet, und seine Auseinandersetzung mit Petrus Lombardus über die Trinität wurde wegen Tritheismus vom 4. Laterankonzil 1215 als ketzerisch verworfen. "Damnamus et reprobamus, wir verurteilen und weisen zurück, die Schrift, die der Abt Joachim gegen Magister Petrus Lombardus geschrieben, und nennen die Schrift selbst ketzerisch und unsinnig", heißt es in der Verurteilung. Die Betrachtung Christi und des Heiligen Geistes als göttliche Personen hatte ihn nach Meinung der maßgebenden Theologen zu weit geführt.
  Was war Joachim aber wirklich? Ein Seliger oder ein Ketzer? Er selbst erzählt, daß ihm an einem Pfingstmorgen die große Erleuchtung kam: "Als ich um die Matutine [um Mitternacht] aus dem Schlaf erwachte, nahm ich zur Meditation dieses Buch [die Apokalypse] in die Hand... Da durchfuhr plötzlich zur Stunde, in der unser Löwe vom Stamme Juda auferstanden ist, eine Helligkeit der Erkenntnis die Augen meines Geistes, und es enthüllte sich mir die Erfüllung dieses Buches und die symmetrische innere Bezogenheit des Alten Testamentes und des Neuen Testamentes." Die gesamte Heilsgeschichte enthüllte sich ihm als eine Aufeinanderfolge von drei Zeitaltern: dem des Vaters, dem des Sohnes, dem des Heiligen Geistes. Das erste steht im Licht der Gestirne, das zweite im Licht der Morgenröte, das dritte in der strahlenden Helle des Tages. Die erste Epoche dauert von Abraham bis kurz vor Christi Geburt. Sie steht im Zeichen der Herrschaft des Gesetzes und der Furcht. Die zweite Periode beginnt mit Christus. Sie umfaßt die bisherige Geschichte der Kirche und ist gekennzeichnet durch die Herrschaft der Gnade und des Glaubens. Auf diese Epoche des Sohnes läßt Joachim das dritte und abschließende Zeitalter des Heiligen Geistes folgen. Auf Grund einer typologischen Auslegung der Bibel und allegorischer Zahlenmystik kündigte der trinitarische Geschichtstheologe den baldigen Anbruch des dritten Weltalters an. Er charakterisierte es als Ära der Liebe und der Freiheit. In ihr werde es keine privilegierten Stände, keine Sakramente, keine Kirche im bisherigen Sinne mehr geben. Im Zeitalter des Heiligen Geistes werde eine aus pfingstlichem Enthusiasmus geborene Freiheit die bisherigen Ordnungen ablösen.
  Joachim glaubte in Erlebnissen und Erleuchtungen sowohl die Concordia beider Testamente wie den Sinn der Apokalypse erkannt und das wahre Verständnis der Trinität erfaßt zu haben. Die jüdische Synagoge werde durch die christliche Klerikerkirche abgelöst, und nach dieser sei in naher Zukunft die neue Geistkirche zu erwarten. Um sie mit vorbereiten zu helfen, errichtete Joachim am Ende des zweiten Zeitalters seinen neuen Orden der Florenser. Die Eschatologie des Neuen Testaments, der Apostel und ersten Kirchenväter, ihre Hoffnung auf die baldige Wiederkehr Christi, verbunden mit dem Letzten Gericht, wird bei Joachim in die Eschatologie der Geistkirche des dritten Zeitalters oder Status, in Anlehnung an die Trinitätslehre, umgewandelt. Dann werde die intelligentia spiritualis herrschen.
  Joachim vermied es, gegen die kirchlich-patristische Überlieferung aufzutreten. Nur gegen die Auffassung des Petrus Lombardus von der Trinität polemisierte er. Diese Polemik wurde dann auch - wie erwähnt - vom Laterankonzil 1215 als ketzerisch verurteilt. Doch das hat Joachim nicht mehr erlebt. Er starb am 20. März 1202.
  Das dynamisch Ketzerische in den Gesichten Joachims zeigte seine volle Wirkung erst nach dessen Tod. Im Zuge der weiteren Entfaltung des Feudalismus im Hochmittelalter, mit dem mächtigen Papsttum und den weltlichen und geistlichen Feudalherren an der Spitze, wurde die Hoffnung auf einen dritten Status der Weltgeschichte, in der die Menschheit eine Epoche des Friedens und der Brüderlichkeit erleben werde, immer aktueller. Das Versagen der Machtkirche trat offen zutage. Der von Joachim erwartete Umbruch schien näherzurücken.
  Als ein Schüler des heiligen Franz von Assisi, Gerhard von Borgo San Donnino, 1255 in Paris die drei Hauptwerke Joachims, "Concordia Novi et Veteris Testamenti", "Expositio in Apocalypsim" und "Psalterium decem chordarum", herausgab, fügte er ihnen eine eigene Schrift hinzu. Er gab ihr den vielsagenden Titel "Introductorius in Evangelium aeternum". Gerhard sah also in den von ihm edierten Schriften Joachims nichts anderes als das Ewige Evangelium selbst, von dem Joachim so eindringlich als dem Grundbuch im dritten Status der Weltgeschichte gesprochen hatte. Damit waren die Schriften Joachims zu geistigen Waffen, zum Rüstzeug einer revolutionären Kirchenreform gegen die mit dem Feudalismus eng verknüpfte römische Kirche geworden.
  Die leitenden Männer des Franziskanerordens und die geistlichen Herren in Rom, mit dem Papst an der Spitze, wurden nun hellhörig. Noch im Jahr des Erscheinens des "Evangelium aeternum" (1255) erfolgte die Verwerfung der Schrift durch eine Kardinalskommission in Anagni. 1263 lehnte die Provinzialsynode von Arles die Schriften Joachims ab.
  Aber der angesehene Theologe aus dem Franziskanerorden Petrus Johannis Olivi (gest. 1298) griff bald darauf in seiner Apokalypsenpostille Gedanken Joachims leidenschaftlich auf und ließ den letzten Status der Weltgeschichte mit der Verurteilung der römischen Kurie, der "großen Hure", beginnen. Die gewaltige Sprengkraft der Idee vom Ewigen Evangelium hat sich im Laufe der Ketzergeschichte immer wieder gezeigt.
  Durch die Erwartung einer dritten Weltepoche auf Erden unterscheidet sich Joachim von der Kirchenlehre, die nach dem Tode Christi nur dessen Wiederkunft als Richter am Ende der Welt erwartet. Nach den beiden Testamenten für das erste und das zweite Zeitalter war für das dritte, für die Geistkirche, ein drittes Evangelium zu erwarten. Und dieses sahen eben seine späteren Anhänger, wie bereits betont, in den Schriften Joachims selbst, die sie erweiterten und fälschten (pseudojoachitische Schriften), um sich wirksam darauf berufen zu können. Wenn auch Joachim daran unbeteiligt war und er, wie Meister Eckhart, immer rechtgläubig sein wollte, wurde er durch seine Auffassung von den drei Zeitaltern zum Ketzer, und als solcher wirkte er auf die Nachwelt.
  Auch Eckhart wollte rechtgläubig sein, und doch wurde er durch seine "Freiheit der Kinder Gottes" zum Apostel für die als Ketzer verurteilten "Brüder und Schwestern vom freien Geist". Das tiefe Unbehagen über Vergangenheit und Gegenwart lenkte die Hoffnung des gläubigen Menschen auf eine Zukunft, in der die arme, gewaltlose Geistkirche im Mittelpunkt steht. Joachim suchte nach einem Ausweg aus den bedrückenden Zeitverhältnissen und stellte sich damit außerhalb der geltenden katholischen Lehre und Weltanschauung, wenn er das auch nicht wahrhaben wollte.
  Joachims Auslegung der Apokalypse war geprägt von seinem seherischen Blick in das erwartete dritte Weltstadium. Die Auflösung der symbolischen Bilder des Bibeltextes erfolgte wieder in Bildern. Sein in die Zukunft vorgreifender Prophetismus erwuchs aus seinen dichterisch-religiösen Vorstellungen. So berichtete er, daß ihm während der kirchlichen Gesänge am Pfingstfest das Geheimnis der Dreifaltigkeit aufgegangen sei im Bild des zehnsaitigen Psalters. Und der Schrift, die davon kündet, gab er den Namen dieses Musikinstrumentes: "Psalterium decem chordarum".
  Am revolutionärsten wirkten seine Visionen des dreifachen Fortschrittes der Zeitalter (Status): von der Furcht im ersten Status über die Gnade im zweiten Status zur kommenden Wiedergeburt im Ewigen Evangelium, dessen Verkündigung in der Apokalypse (14,6) vorausgesehen wurde. Beruhte der erste Weltstand auf der Furcht, der zweite auf dem kindlichen Dienst, so herrschte im dritten die Freiheit. Furcht, Glaube und Liebe lösen einander ab. Sterne, Morgenröte, Taghelle - Winter, Frühling, Sommer - Nesseln, Rosen und Lilien - in solchen Sinnbildern veranschaulicht Joachim seine Vorstellung von den drei aufeinanderfolgenden Weltstadien. Der dritte Weltstatus, im Zeichen des Heiligen Geistes stehend, bringt die vollkommene Freiheit. Das Ewige Evangelium wird zu seinem Grund-Buch, wie Joachim von Fiore immer wieder betont. Dann wird sein ein Hirt und eine Herde. Ein "Dux novus", ein universaler Papst ersteht aus der römischen Kirche, der die Christenheit zu einer Erneuerung von Grund auf führt. Die Erneuerung, die renovatio, wurde ein revolutionierendes Schlagwort für das Weltalter der Zukunft. Daran hat die joachitische Tradition jahrhundertelang festgehalten.
  Die Auswirkungen von Joachims Idee der nahenden Geistkirche sind unübersehbar. Diese Geschichtstheologie war von gewaltiger Dynamik und Sprengkraft. Gert Wendelborn deutet sie in seinem Buch "Gott und Geschichte" als Geschichtsphilosophie im Rahmen einer Erwartungstheologie.
  Angesichts dieser heterodoxen Idee setzt es in Erstaunen, daß Joachim im Seligenkalender der katholischen Kirche belassen wurde. Während die katholische Forschung allgemein Joachim vom Makel des Ketzertums zu befreien trachtet und um den Nachweis seiner Rechtgläubigkeit bemüht ist, sehen konservative Katholiken in Joachim das Urbild des Ketzers. So schreibt Schulmeister, der katholische Schriftleiter der Wiener Zeitung "Presse", in der Ausgabe vom 20./21. Juli 1974 über die Bedeutung Joachims von Fiore heute: "Nun wird Petrus gegürtet und geführt, wohin er nicht will, um rasch seinen Laut zu vollenden, heißt es schon beim Spiritualisten Joachim von Fiore, dem mittelalterlichen Urheber alles dessen, was sich heute zum Sturmangriff auf Rom versammelt. Nicht gegen die Hauptstadt Italiens, nicht gegen die Città del Vaticano, nicht gegen das Papsttum allein, auch gegen das Papsttum, soweit es geschichtliche Erscheinung des römischen Princeps ist. Statt der Kirche des Vaters wird eine Kirche der Brüderlichkeit proklamiert, statt Hierarchie Demokratisierung, statt Dogma Pluralismus, anstelle des Mysteriums die kritische Forschung, statt des Gebetes soziales Engagement und jedenfalls Mündigkeit gegen Gehorsam." Rom werde als "ein Schatten über dem Evangelium einer Geisteskirche" diskreditiert. Schulmeister schließt mit der galligen Bemerkung: "Und die Theologengewerkschaft liefert der massenmedialen Verzerrung Ideologie hinzu." Daß Joachim von Fiore von jenem Absolutheitsanspruch aus als Erzketzer gewertet wird, ist nicht verwunderlich.
  Aber richtiger wird Joachim von Fiore wohl von S. M. Stam gesehen. Stam verweist auf die wichtige Rolle, die in Joachims Exegese der Apokalypse die Idee vom Antichrist spielt. Der Antichrist kommt nach Joachim nicht am Ende der Welt, wie die kirchlich-orthodoxe Interpretation lautet, sondern schon am Ende der zweiten Weltepoche, in der das Christentum herrscht. Schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche um ihre wahre Sendung gehen voraus.
  Engländern gegenüber, die bei Beginn des dritten Kreuzzugs unter König Richard Löwenherz sich in der Straße von Messina festgesetzt hatten und mit denen Joachim 1191 zusammentraf, soll er geäußert haben, daß nicht der Sultan Saladin der Antichrist sei, sondern ein künftiger, bereits geborener Papst; denn der Streit innerhalb der Kirche gehe zwischen denen, deren Blick vor allem auf Macht und Reichtum gerichtet sei, und denen, deren Sehnsucht dem kommenden geistigen Reich auf Erden gelte. Den Sieg der letzteren könne auch der Antichrist nicht aufhalten. Bald werde der dritte Status der Weltgeschichte anbrechen, in dem das Böse - Unterdrückung und Ungerechtigkeit - nicht mehr herrschen werde. In dieser dritten Epoche "wird Gott allen durch Unrecht Leidenden helfen und die Habgierigen, Machthungrigen peitschen lassen", heißt es in der Concordia-Schrift.
  In diesem Reich der "Gerechtigkeit und Freiheit" herrscht "Liebe" statt "Angst", "Freiheit" statt "Knechtschaft"; es "wird Friede sein und Recht herrschen in allen Ländern". War das erste Weltstadium das der Knechte, das Zweite das der Söhne und Töchter, so ist das dritte Weltstadium das der Freunde. Joachim von Fiore wurde zum Propheten der Freiheit, des Friedens und der Nächstenliebe. Der Blick geht in die Zukunft, in die ersehnte vollkommene, heile Welt. Die religiöse Passivität, die in Joachims Zukunftserwartung mitschwingt, soll nicht übersehen werden. Sie hat ihn letztlich vor der Verurteilung als Ketzer bewahrt. Doch seine Vorstellung vom Ewigen Evangelium hat ihre revolutionierende Wirkkraft durch die Jahrhunderte hindurch behauptet. Es ist erstaunlich, was an Ketzerischem aus dieser Wurzel aufschoß und trotz aller Verfolgung immer von neuem nachwuchs.

Die Ketzergemeinschaft in München

Marsilius von Padua (um 1277-1342/43)
  Hatte Joachim von Fiore der hierarchischen Kirche seine chiliastische Erwartung einer nahenden 'Geistkirche in einem dritten Reich des Heiligen Geistes' entgegengestellt, so sprach Marsilius von Padua der herrschenden Kirche jegliche Befugnisse der weltlichen Macht gegenüber ab. Der ständige Kampf in Europa zwischen geistlicher und weltlicher Macht, der ja das ganze Mittelalter durchzog, müsse ein Ende finden, forderte Marsilius. Alle Eingriffe von Klerikern, mit dem Papst an der Spitze, in den weltlichen Herrschaftsbereich hätten zu unterbleiben. Marsilius' Schrift, die ihn zum Ketzer machte, führte den programmatischen Titel "Defensor pacis" (Verteidiger des Friedens - 1324). Marsilius hatte vor allem Papst Bonifaz VIII. (1220-1303, seit 1294 Papst) vor Augen, der sich ganz im Sinn des hochmittelalterlichen Machtanspruches der Päpste als politischer Schiedsrichter Europas aufwarf und unmittelbar weltliche Macht auszuüben bestrebt war. Bonifaz VIII. beanspruchte auf Grund der Würde des apostolischen Stuhls die päpstliche Lehnshoheit über Polen, Ungarn, Sizilien und Schottland. Schon in seiner Bulle "Clericis laicos" (1296), in der er den Kampf der Kleriker gegen die Laien unterstützte, und vor allem in der Bulle "Unam sanctam" (1302) prätendierte Bonifaz auf die direkte päpstliche Oberherrschaft über alle Fürsten.
  In diesem Sinn nahm Papst Johannes XXII. (1316 bis 1334) bei nicht einstimmiger Wahl eines deutschen Königs zum Oberhaupt des Imperium Romanum das Recht in Anspruch, einen Reichsvikar einzusetzen. Im Jahre 1320 gab der Papst dem von ihm bestimmten Reichsvikar, dem König Robert von Neapel, noch einen Reichsvizevikar in Philipp von Valois an die Seite. Dies alles rief leidenschaftliche Proteste hervor. Marsilius schrieb seinen "Defensor pacis", in dem diese päpstlichen Ansprüche als friedensstörend entschieden zurückgewiesen wurden.
  Neben die Schriften Joachim von Fiores, von der Nachwelt als das Ewige Evangelium aufgefaßt, tritt im nächsten Jahrhundert als epochales häretisches Werk der "Defensor pacis" des Marsilius von Padua. Anders als der irrationale Chiliasmus Joachims ist der "Defensor pacis" ganz auf Vernunft und Logik aufgebaut. Hier wird der antike Staatsgedanke mit dem frühbürgerlichen Selbstbewußtsein des keimenden frühneuzeitlichen Humanismus verflochten.
  Wer war nun der Verfasser, wie kam er zu seinen damals wahrhaft umwälzenden Gedanken? Marsilius, geboren zwischen 1275 und 1280 in Padua, war der Sohn von Bonmatteo Mainardini, dem Notar der Universität Padua. Hier hat Marsilius bei dem bekannten Averroisten Pietro d'Albano Philosophie gehört; er befaßte sich aber auch mit Rechtswissenschaft, Theologie und Medizin. Marsilius trieb sichtlich alle diese Wissenschaften sehr eifrig, wie sein "Defensor pacis" ausweist. Zudem war er als praktizierender Arzt tätig. In den Naturwissenschaften hatte Padua seit 1200 einen Namen. Dort wirkte unter anderem Jordanus Nemorarius, der sich um die Herleitung des Hebelgesetzes von Aristoteles und dessen Weiterentwicklung durch die Anwendung auf der schiefen Ebene verdient machte.
  Sehr früh scheinen die hohen Geistesgaben des jungen Paduaners erkannt worden zu sein, denn die oberitalienischen Stadtstaaten Verona und Mailand schickten ihn als ihren diplomatischen Vertreter nach Paris. Zur Theorie kam die Praxis, Einblick in die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat, die staatlicherseits della Scala in Verona und Matteo Visconti in Mailand führten. Das Emanzipationsstreben der Bürger lehnte sich gegen die Bevormundung durch die Geistlichkeit auf. Man wollte nicht, daß an Stelle der niedergehenden Macht des Kaisertums die weltliche Herrschaft des Papsttums aufgerichtet wurde.
  Den Aufenthalt in Paris nützte Marsilius, um an der Sorbonne zu studieren. Hier schloß er sich einem "egregius (ausgezeichneten) doctor" an, bei dem es sich um Johannes von Jandun handelte. Johannes war damals das geistige Haupt des lateinischen Averroismus, der die arabische Aristotelesinterpretation des Averroes (Ibn Ruschd) übernahm und auf dieser Bahn des Denkens sich rasch von der herrschenden Weltsicht des abendländischen Mittelalters entfernte. Siger von Brabant hatte in diesem Geiste des lateinischen Averroismus schon zur Zeit der Geburt des Marsilius behauptet, daß die herrschende Kirchenlehre im Gegensatz zu den philosophischen Wahrheiten stünde. Seine These wurde 1277 als ketzerisch verworfen. Um 1300 war Johannes von Jandun der wichtigste Vertreter des lateinischen Averroismus. Durch Pietro d'Albano schon in Padua in diese philosophische Richtung eingeführt, wurde Marsilius in Paris von Johannes von Jandun aufs neue beeinflußt.
  Wie angesehen Marsilius an der Universität Paris war, beweist, daß der Magister artium von Dezember 1312 bis März 1313 an der Spitze der Universität stand. Im Jahre 1313 wird er im Zusammenhang mit seinem Lehrer in Padua, Pietro d'Albano, genannt. Aber die diplomatische Tätigkeit ließ die gleichzeitigen Lehrverpflichtungen an der Universität nicht zu. Außerdem bemühte sich Marsilius um die Sicherstellung seiner Existenz durch eine geistliche Pfründe in seiner Vaterstadt. Vergeblich wandte er sich zu diesem Zweck an Papst Johannes XXII. in Avignon. Es fehlte ihm an Ansehen, Verbindungen, Gönnern. So lernte er den Pfründenhandel kennen und aufs tiefste verachten.
  Abgestoßen von der bestehenden Machtkirche, fühlte sich Marsilius immer stärker zur Lehre von einer armen, machtlosen Kirche hingezogen. Er sympathisierte mit den Verfechtern vollkommener Armut in der Kirche, wie sie, angeregt durch Joachim von Fiore und Franz von Assisi, vor allem im Franziskanerorden und bei den von der Inquisition verfolgten Fraticellen zum Ausdruck kam.
  Sehr beeindruckt war Marsilius von Padua durch das Konzil von Vienne, das 1311/12 die Bedeutung des allgemeinen Konzils gegenüber dem Papsttum betonte. Der Papst war 1309 unter dem Druck von Frankreichs König Philipp IV. nach Avignon übersiedelt. Auf dem Konzil von Vienne kam es zu heftigen Auseinandersetzungen im Armutsstreit. Petrus Johannes Olivi, der geistige Führer der "Armen Brüder vom heiligen Franziskus", wurde postum als Ketzer verurteilt.
  Aber der Armutsstreit wurde auf dem Konzil nicht gelöst, sondern durch Kompromisse vertuscht. Die Spiritualen im Franziskanerorden hatten bei der rücksichtslosen Darlegung von Mißständen, wie sie auch im Franziskanerorden eingerissen waren, das Wesen der reichen Machtkirche bloßgelegt. Bischöfe, wie namentlich Wilhelm Durandus von Mende, kämpften auf dem Konzil entschieden gegen den Zentralismus der Päpste, gegen Exemtionen und Reservationen einträglicher Pfründen. Im letzten siegte aber doch das Bündnis von Papsttum und Fürsten zur gemeinsamen Eintreibung und Nutznießung von Zehnten und Annaten.
  Hinzu kam der offenkundige Mißbrauch von Bann und Interdikt, vor allem bei der Einmischung in rein politische Angelegenheiten, wie der Wahl des deutschen Königs. Ludwig der Bayer war mit Stimmenmehrheit zum deutschen König gewählt worden. Aber Johannes XXII. erkannte diese Wahl nicht an und schritt gegen Ludwig mit Bann und Interdikt ein, weil dieser sich dem Papst nicht fügte. Am 11. Juni 1324 erklärte ihn der Papst für abgesetzt und aller Würden verlustig. Er setzte alle seine Mittel ein, um Geistliche und Fürsten gegen den Bayern aufzuwiegeln. Es kam zu blutigen Zusammenstößen.
  Vor diesem machtpolitischen Hintergrund ist das Auftreten des Marsilius von Padua zu sehen. Marsilius nahm die Partei des Königs und begrüßte die "Sachsenhausener Appellation" Ludwigs vom 22. Mai 1324, in der die Einmischung des Papstes in politische Angelegenheiten mit Hilfe geistlicher Zwangsmaßnahmen zurückgewiesen wurde. Seine Schrift "Defensor pacis" widmete er folgerichtig König Ludwig.
  In der "Sachsenhausener Appellation" war der üble Handel des Papstes mit geistlichen Würden und Pfründen zu politischen Zwecken schonungslos und ausführlich enthüllt worden. Schon der erste Satz der Sachsenhausener Appellation wirkt wie ein Paukenschlag: "Wir, deutscher, von Gottes Gnaden römischer König, allzeit Mehrer des Reiches, bringen öffentlich vor gegen Johann XXII., der sich Papst nennt, daß er ein Feind des Friedens ist ..." Johannes XXII. hatte Ludwig gebannt und den Prozeß gegen ihn auf Amtsenthebung eingeleitet. Dies mußte einen Ghibellinen, einen Anhänger des Kaisers wie Marsilius, aufs höchste empören. Das Unruhe stiftende machtpolitische Treiben des Papstes war dokumentarisch ausgewiesen worden. Nun stand die Frage: Wie ist das Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Gewalt zu regeln, damit der weltliche Friede nicht mehr durch die geistliche Macht gefährdet werden konnte. Zur theoretischen Klärung dieser Frage sollte der "Defensor pacis" beitragen.
  Marsilius wußte um die Bedeutung seiner Schrift. Das zeigt die feierliche Datierung unter dem 24. Juni 1324 am Anfang und der noch feierlichere Schluß: "Dir sei Lob und Preis, Christus!" Aber Marsilius war sich auch der Dynamik seines Werkes voll bewußt, das für ihn tödlich werden konnte; er setzte es deswegen zuerst nur anonym von Paris aus in Umlauf. Doch als 1326 der Name des Autors bekannt wurde, war seines Bleibens nicht länger in Frankreich. Er flüchtete mit seinem Freund und Lehrer Johannes von Jandun nach München an den Hof Ludwigs.
  Die inhaltliche Verwandtschaft der "Sachsenhausener Appellation" und des "Defensor pacis" legen den Schluß nahe, daß Marsilius auch die "Appellation" Ludwigs entworfen hat. Vor allem die langen theoretischen Ausführungen in beiden Schriften über die vollkommene Armut in der Kirche, die nicht wesentlich zum Thema der "Appellation" und des "Defensor" gehören, verweisen auf den gemeinsamen Ursprung.
  Ludwig sah zunächst im Erscheinen des Marsilius an seinem Hofe, noch dazu in Begleitung eines ebenso der Ketzerei Verdächtigen wie Johannes von Jandun, eine zusätzliche Gefährdung seiner Position. Doch der Scharfsinn des ganz für die Kaiserhoheit eintretenden Italieners wurde dem Wittelsbacher bald ein wichtiger Beistand in seinem Kampf gegen Johannes XXII.
  Der Papst erkannte rasch die ihm drohende Gefahr. Schon am 3. April 1327 verurteilte die Bulle "Licet iuxta" Marsilius als Ketzer. Am 23. Oktober desselben Jahres wurden sechs seiner Sätze namentlich genannt, deren Verfechtung mit Exkommunikation bestraft wurde. Am Schluß des "Defensor" hatte Marsilius seine Vorstellungen in 42 Sätzen zusammengefaßt. Jeder einzelne war ein Angriff auf die Einmischung der Kirche in die weltliche Politik. Es ist bezeichnend, daß die folgenden sechs Sätze den besonderen Zorn des Papstes hervorriefen. Sie lauten:
  1. Dem Kaiser unterstehen die Temporalien (weltliche Güter und Einkünfte) der Kirche.
  2. Der Kaiser kann den Papst absetzen, zurechtweisen und bestrafen.
  3. Christus hat kein Haupt der Kirche eingesetzt.
  4. Papst, Bischöfe und Priester haben gleiche Autorität.
  5. Der Kirche steht keine Zwangsgewalt zu.
  6. Der Papst hat kein Recht auf Absolution von Kirchenstrafen.
  Wie sehr sich der päpstliche Zentralismus, der Anspruch, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein, durch den "Defensor" herausgefordert sehen mußte, wird deutlich. In einer Erklärung Johannes' XXII. vom 26. Februar 1328 nennt der Papst Marsilius und Johannes von Jandun "Bestien, hervorgegangen aus den Abgründen des Satans und aus dem Schwefelpfuhl der Hölle".
  Dem "Wahn, dem Verlangen und dem Bemühen besonders des römischen Bischofs und seines Klerikerkreises, weltliche Herrschaft und zeitliche Güter im Übermaß zu besitzen", will Marsilius mit dem "Defensor" entgegentreten. Weltliche Güter und weltliche Macht der Kirche geben Anlaß zum Unfrieden. Aus dieser Erkenntnis erhält die Forderung nach vollkommener Armut der Kirche ihre politische Rechtfertigung. Daher heißt es in den Folgerungen am Schluß des "Defensor" (Nr. 27): "Die zeitlichen Güter der Kirche kann der Gesetzgeber, wenn der notwendige Bedarf der Priester und der anderen Diener des Evangeliums einschließlich der Kosten des Gottesdienstes und der Bedarf der hilflosen Armen befriedigt ist, mit vollem Recht und in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz für allgemeine und öffentliche Zwecke oder für die Verteidigung ganz oder teilweise verwenden." Der menschliche Gesetzgeber "aber ist allein die Gesamtheit der Staatsbürger oder deren bedeutendster Teil".
  Die Idee der Volkssouveränität begegnet uns wiederholt im "Defensor". So verteidigt Marsilius (1. Teil, Kapitel 13 und 14) entschieden die Gesamtheit der Bürger als Gesetzgeber. Das Urteil des Volkes ist maßgebend. Das Volk wählt die Regierung; diese regiert im Auftrag des Volkes. Solche bereits an moderne demokratische Ideen gemahnenden Vorstellungen waren damals noch verfrüht; sie können als erste Ansätze einer bürgerlich-demokratischen Staatslehre gewertet werden.
  Auf König Ludwig mußten derartige Ideen befremdlich wirken. Er folgte deswegen nur zögernd dem Vorschlag des Marsilius, nach Rom zu ziehen, durch das Volk die Kaiserwahl bestätigen und sich durch einen von ihm eingesetzten Gegenpapst krönen zu lassen. Doch 1327 trat er den Zug an, und am 17. Januar 1328 fand die Kaiserkrönung in Rom statt. Johannes XXII. wurde für abgesetzt erklärt. Die Streitigkeiten waren damit freilich nicht beendet. Die in Avignon, dem Sitz Johannes XXII., betriebene Politik wurde immer erfinderischer in ihren Mitteln, wenn es darum ging, Ludwig in Schwierigkeiten zu bringen.
  In Italien hatten sich noch einige Ketzer unter den Schutz Kaiser Ludwigs gestellt. Es handelte sich um Angehörige des Franziskanerordens, die aus den Kellern der päpstlichen Inquisition in Avignon entflohen waren, wo sie als entschiedene Verfechter einer armen, der weltlichen Macht entkleideten Kirche inhaftiert worden waren. Auf dem Generalkapitel des Franziskanerordens in Perugia 1322 hatte Ordensgeneral Michael von Cesena, der seit 1316 an der Spitze des Ordens stand, die These von der vollkommenen Armut öffentlich verkündet. Er war ebenso wie sein gelehrter Ordensbruder, der Ordensprokurator Bonagratia von Bergamo, zuerst auf seiten des Papsttums gegen die radikalen Anhänger der vollkommenen Armut, gegen die mit den revolutionären städtischen Unterschichten verbundenen Fraticellen, eingeschritten. Aber auf dem Generalkapitel des Ordens in Perugia 1322 traten beide Franziskaner im Armutsstreit theoretisch für die These von der vollkommenen Armut Christi und der Apostel als Vorbild für die Kirche ein. Dagegen verurteilte Papst Johannes XXII. schon am 8. Dezember 1322 in einer Bulle diese These als ketzerisch. Sie hätte ja die reiche Machtkirche als Stütze des herrschenden weltlichen und geistlichen Feudalismus tödlich getroffen. Da sich Cesena und Bonagratia nicht fügten und letzterer sogar wagte, in seiner Schrift "De paupertate Christi" offen gegen die Bulle aufzutreten, wurden sie vom Papst 1327 nach Avignon zitiert und hier im Inquisitionskeller der päpstlichen Burg gefangengehalten. Es sollte verhindert werden, daß sie auf dem neu einberufenen Generalkapitel des Franziskanerordens in Bologna wieder für diese These eintraten. Der Papst befahl dem Generalkapitel, einen neuen Ordensgeneral zu wählen. Aber wider alles Erwarten wurde Michael von Cesena wiedergewählt. Das ist ein Zeichen, wie tief die Idee der vollkommenen Armut im Orden Wurzel gefaßt hatte.
  Die Nachricht von der spektakulären Kaiserkrönung Ludwigs in Rom im Jahr 1328 nach dem Rezept des "Defensor pacis" und vom Aufenthalt des Kaisers in Italien drang auch in die Kerker der Inquisition in der Papstburg zu Avignon. Hier wurde noch ein illustrer Geist gefangengehalten. Es war der englische Franziskaner Wilhelm von Occam, der zu ähnlichen Ergebnissen in der Lehre von Kirche und Staat gelangt war wie Marsilius. Papst Klemens VI. glaubte sogar, im "Defensor pacis" den Einfluß Occams erkennen zu können.
  Den drei Ketzern - Michael von Cesena, Bonagratia von Bergamo und Wilhelm von Occam - gelang die Flucht. Am 26. Mai 1328 begaben sie sich in Pisa unter den Schutz Ludwigs des Bayern. Schon am 6. Juni erfolgte ihre Exkommunikation durch den Papst. Sie zogen mit dem Kaiser nach München, wo sie zusammen mit Marsilius von Padua und Johannes von Jandun eine dem Papsttum gefährliche Gruppe bildeten.
  Alle fünf Ketzer berieten und bestärkten den unbeständigen Kaiser in seinem Kampf gegen Johannes XXII. und dessen Nachfolger Benedikt XII. und Klemens VI. Ludwig war zum Einlenken bereit, auch Benedikt XII. Aber hinter den Auseinandersetzungen um die Stellung von Kaiser- und Papsttum, um den Primat des Papstes, standen politische Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland beziehungsweise England. Die Päpste in Avignon waren von den französischen Königen abhängig. So ging Ludwigs Kampf mit Avignon weiter. Das rettete die Münchner Ketzer vor der Auslieferung.
  Aus dem Münchner Ketzerkreis kam 1334, nach dem Tode Papst Johannes' XXII., auch die Anregung, der Kaiser möge ein allgemeines Konzil einberufen, um der immer unerträglicher werdenden Einmischung der Päpste in weltliche Angelegenheiten ein Ende zu bereiten. Wiederum war hierbei Marsilius federführend, war doch schon in seinem "Defensor pacis" die Einberufung eines allgemeinen Konzils durch den Kaiser vorgesehen. Diese Absicht erregte das Papsttum aufs höchste. Das bereits 1328 verhängte Interdikt über den Aufenthaltsort Ludwigs wurde deswegen in Deutschland immer wieder vom Papst eingeschärft, um den Kaiser in die Knie zu zwingen und dadurch auch die Ketzergemeinschaft in München zu vernichten.
  Das Interdikt lastete schwer auf der im Spätmittelalter für kirchliche Gnadenmittel sehr aufgeschlossenen Bevölkerung. In den vom Papst interdizierten Gebieten durften die Sakramente nicht gespendet, die Toten nicht kirchlich begraben werden, die Glocken hatten zu schweigen. Und diese Strafe dauerte unter Umständen Jahre. Heinrich Suso (Seuse) klagt, wie schwer in Konstanz zwölf Jahre lang das Interdikt auf der Stadt lag. Der Haß der Bevölkerung richtete sich gegen die dem Interdikt gehorsame Geistlichkeit. Es kam zu schweren Ausschreitungen in den gestraften Städten gegen die "nicht singende" Geistlichkeit, wie in Mainz und Bernau bei Berlin. Vielfach wurde das Interdikt nicht eingehalten; die päpstlichen Waffen, allzu scharf geschliffen, wurden schartig. In vielen deutschen Städten wurde nur die "singende" Geistlichkeit geduldet, also die Priester, je trotz Interdikt die Sakramente spendeten und die Messe sangen.
  Der Kaiser verfügte am 3. April 1330, daß die Pfründen von Geistlichen, die dem Interdikt gehorchten, "Bürgermeistern und Ratsherren der Bürgerschaft" zufielen. Hier war endlich für die Bürgerschaft der Weg gewiesen, der weiteren Klerikalisierung und der damit verbundenen Steuerfreiheit des kirchlichen Besitzes Einhalt zu gebieten. Diese kaiserliche Verfügung war ganz im Sinne des "Defensor" und gewann dem Kaiser viele Anhänger. Der 1330 an die Reichsfürsten ergangene Aufruf des Kaisers, Kirchengut zu enteignen, fand vielfach deren Zustimmung. Der Kurverein (Kurfürstentag) von Rhense (Rense am Rhein bei Koblenz) betonte 1338, daß die Wahl des deutschen Königs durch die Kurfürsten rechtsgültig sei und keiner Bestätigung durch den Papst bedürfe. So schienen sich die Ideen des "Defensor pacis" trotz der zögernden Haltung Ludwigs auf deutschem Boden zunehmend in die Tat umzusetzen.

Wilhelm von Occam (um 1285 bis um 1348)
Durch Wilhelm von Occam (Ockham) war die Ketzerhochburg München wesentlich verstärkt worden. Um 1285 in Ockham (Occam), südlich London, geboren, studierte Wilhelm, nachdem er in den Franziskanerorden eingetreten war und 1306 die Subdiakonatsweihe erhalten hatte, in Oxford, wo er 1321 Magister der Theologie wurde. Doch dem Kanzler der Universität, Johannes Lutterell, der im Namen des Erzbischofs über die Rechtgläubigkeit wachte, fielen sehr bald die kühnen Ideen des jungen Magisters auf, und er ließ ihn nicht zur Leitung der monatlichen Disputationen zu, weil er dessen scharfsinnige Einwände fürchtete. Er klagte ihn bei Papst Johannes XXII. der Häresie an. Der Papst zitierte Wilhelm 1324 wegen Häresieverdachts nach Avignon. Eine Kommission von sechs Theologen, darunter Lutterell, erklärte 1326, von 58 untersuchten Behauptungen Wilhelms seien 51 häretisch. Der Papst ließ ihn in den Inquisitionskeller werfen. Weiterer Verfolgung entzog sich Wilhelm durch die Flucht.
  Wilhelm von Occam war ein Bahnbrecher der zur Reformation führenden geistigen Bewegungen im Spätmittelalter. Er erkannte das von der Feudalkirche getragene mittelalterliche universale Lehrgebäude als unhaltbar und griff die nominalistischen Gedanken von Wilhelm Durandus dem Jüngeren auf, durchdachte sie neu und entwickelte den Nominalismus so, daß er als "Fürst der Nominalisten" in die Geschichte des Denkens einging. Sein einflußreichster Schüler wurde Buridan an der Universität Paris. Trotz der Verurteilung der Lehren Occams 1340 waren auch dort die ketzerischen Gedanken nicht mehr auszurotten. Als Via moderna im Gegensatz zur hochscholastischen, auf Thomas von Aquino und Duns Scotus festgelegten Via antiqua - trat der Nominalismus von Paris aus seinen Siegeszug an. An den meisten neugegründeten Universitäten wurde er die führende Richtung. Occam ging von der nominalistischen Lehre aus, daß dem Allgemeinen keine Realität zukomme und nur einzelnes, Individuelles existiere: "Universalia sunt nomina post rem." Die Allgemeinbegriffe sind nach Occam Zeichen, Bedeutungsinhalte für die konkreten Dinge. Das einzelne, sinnlich Wahrnehmbare, Anschauliche, dem allein Realität zukomme, wurde in den Mittelpunkt des Denkens gestellt. In bezug auf den Menschen bedeutete das: Das Individuum, der Laie, der Bürger erfuhr eine Höherbewertung, während die hierarchische Ordnung der Kirche erschüttert und der Wahrheitsanspruch ihrer Dogmen, ja des gesamten herrschenden feudalklerikalen Weltbildes in Frage gestellt wurde.
  Unter diesem kritischen Aspekt beurteilte Occam das Wesen der Kirche und ihr Verhältnis zum Staat. Es nimmt nicht wunder, daß der englische Häretiker bei Ludwig dem Bayern Zuflucht suchte, der unter dem Einfluß des ebenfalls nominalistisch orientierten Marsilius von Padua sich vom Volk in Rom zum Kaiser wählen und durch einen von ihm unterstützten Gegenpapst zum Kaiser krönen ließ. Occam hat den "Defensor pacis" im Franziskanerkloster in München durch seinen "Dialogus inter magistrum et discipulum de imperatorum et pontificum potestate" philosophisch unterbaut. Dem Papst kommt nach Occam, wie schon der Titel deutlich werden läßt, keine Überordnung über den Kaiser zu, sondern die Kirche ist dem Staat eingeordnet. Über die Temporalien, die Pfründen, das Eigentum weltlichen Ursprungs hat die Kirche keine Verfügungsgewalt. Dem Papst stehen weder ein weltlicher Machtanspruch noch weltlicher Besitz im Namen Christi zu. Die arme, machtlose Kirche ist die wahre Kirche Christi. Das vom Kaiser einzuberufende Generalkonzil, an dem auch Laien, ja selbst Frauen teilnehmen sollen, steht über dem Papst. Es fordert von ihm Rechenschaft und kann ihn absetzen. Die klerikale Hierarchie wird abgewertet, der Laie, der Bürger tritt aus dem Hintergrund hervor, in den ihn die Feudalkirche gestellt hat. Der Laie kann das ewige Heil eher erreichen als ein Geistlicher, und sei es ein Prälat. Wenn Papst und Bischöfe in der Kirchenreform nicht vorankommen, dann hat ein Laie, der Kaiser, das Recht, einzuschreiten und die Ordnung in der Kirche wiederherzustellen. Das Papsttum besitzt nur einen principatus ministrativus, das heißt, der Papst soll der Christenheit dienen, statt über sie zu herrschen. Im Zusammenhang mit dem Armutsstreit wirft Occam den Päpsten nicht weniger als 28 Häresien vor. Trotzdem hoffte er auf eine Versöhnung mit der Papstkirche, wie sein Aufruf in dem "Compendium errorum Johannes XXII. papae" zum Ausdruck bringt: "Ich vertraue auf Gott, daß ich und die anderen Verehrer Christi, die nach Patmos [München] deportiert sind, dereinst ... nach Ephesus [Rom) zurückkehren." Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Occam starb in München, vermutlich kurz nach dem Tode Kaiser Ludwigs am 11. Oktober 1347, so daß ihm Auslieferung und Unterwerfung erspart blieben.
  Die Stellung der Münchner Ketzergemeinschaft war recht unsicher. Die sich am Hofe versammelnden Fürsten begegneten den häretischen Ratgebern Ludwigs mit Mißtrauen. Der taktierende Kaiser, der in erster Linie machtpolitische Interessen verfolgte, war kein zuverlässiger Schirmherr. Wer die Vollmachten liest, die der Kaiser am 28. Oktober 1336 seinen Gesandten nach Avignon mitgab, ahnt die Ängste, die seine Schützlinge in München ausstanden. Die Vollmachten sprechen mehrmals von der Bereitschaft zur Auslieferung. Die Gesandten Ludwigs sollten an seiner Statt zugeben, daß "wir die gegen die Kirche rebellischen Minderbrüder bei uns behalten haben [folgen die Namen] und daß wir einverstanden waren mit ihren Appellationen gegen Herrn Papst Johann. Die Gesandten sollen an unserer Stelle uns entschuldigen in besagtem Punkt und auch darum, weil uns Schuld gegeben wird, ihre Thesen und Lehren gefördert zu haben, die gesprochen und niedergeschrieben sind gegen den Glauben und das Dogma der Kirche: Zum ersten, weil wir öffentlich und ausdrücklich erklärt haben, daß wir, wenn in ihrer Appellation etwas stände, was gegen den Glauben und die Festlegungen der Kirche verstößt, mit ihren Worten nicht übereinstimmen, sondern nur mit denen, die sich auf die kaiserliche Rechtsprechung und auf die Erhaltung unseres Rechts beziehen."
  Aber gerade diesem kaiserlichen Anspruch widersetzten sich die Päpste, und so kam es zu keinem Ausgleich. In seinem Hauptwerk, dem "Dialogus super dignitate papali et regia" (1342), der unter den Augen Kaiser Ludwigs in München entstand, wertet Wilhelm von Occam Papsttum und Hierarchie als menschliche, nicht göttliche Einrichtungen. Der Kirche komme keine potestas directa über zeitliche Dinge zu. Das entsprach der Anschauung des Kaisers, dessen Ansprüche damit theoretisch untermauert wurden.
  W. Köhnel, der sich sehr bemüht, seinen Ordensbruder Wilhelm von Occam vom Fluch, ein Ketzer zu sein, zu befreien, muß in seinem 1962 in Essen erschienenen Buch "W. Occam und seine kirchenpolitischen Schriften" "leider" gestehen, daß Wilhelm dem Papst nicht nur die temporale, sondern sogar die spirituale Vollgewalt abspricht. In Occams Augen ist die spirituale Vollgewalt des Papstes als haeresis pessima noch gefährlicher als die temporale. Sie sei Tyrannei und führe zur Sklaverei. Die spirituale Vollgewalt ist bei Occam die Voraussetzung für die Forderung des Papstes nach temporaler Gewalt. Das war der entscheidende Punkt.
  So sahen sich die Ketzer im Franziskanerkloster zu München bis zu ihrem Tode an den Kaiser gekettet, obwohl ihre Einstellung zu Papst und Kirche von der des Kaisers grundsätzlich abwich. Ludwig wollte Kaiser bleiben und kaiserliche Machtvollkommenheit erlangen. Mit den Auffassungen der Brüder im Franziskanerkonvent über die arme Kirche, auch mit den Ansichten des Marsilius von Padua und Johannes' von Jandun wünschte Ludwig grundsätzlich nichts zu tun zu haben, da er "als Ritter unkundig der Feinheiten der Schriften und der Wissenschaft" sei und "ohne Verdacht" gegen die Brüder, daß sie "etwas gegen den Glauben tun". Dies angebliche "Nichtwissen" um ihre Ketzereien wird den Minderbrüdern in München ihre prekäre Lage klargemacht haben. Dazu kam, daß Ludwigs Stellung als Kaiser, nicht zuletzt durch seine Hausmachtpolitik, immer schwächer wurde, bis 1346 seine Absetzung erfolgte. Papst Klemens VI. hatte am 13. April 1346 nochmals Bann und Interdikt über ihn mit den Fluchworten ausgesprochen: "Möge Ludwig in eine Fallgrube geraten, die er nicht sieht ... Der Herr schlage ihn mit Wahnsinn, Blindheit und Raserei ... Die Erde öffne sich und verschlinge ihn lebendig."
  Occam, einer der letzten Überlebenden der Ketzergemeinschaft in München, hat wohl nach der Absetzung Ludwigs Asyl in England gesucht. Der König von England befand sich im Krieg gegen Frankreich, auf dessen Seite die Avignoner Päpste standen. Während der Verhandlungen ist Wilhelm von Occam gestorben. Obwohl gebannt, wurde er im Franziskanerkloster begraben.
  Occams Ideen, besonders über Kirche und Papsttum, die so sehr den Zorn der Päpste erregt hatten, wirkten weiter. Die Bresche, die er zusammen mit Marsilius von Padua in das mittelalterliche feudalkirchliche Weltbild schlug, konnte nicht mehr geschlossen werden. Mit dem Städtebürgertum begann sich ein neues, auf eine diesseitig-rationale Weltsicht orientiertes Menschenbild zu entwickeln. Der Drang nach Befreiung von feudalkirchlicher Unterdrückung und Bevormundung war nicht mehr zu ersticken. Marsilius von Padua und Wilhelm von Occam stehen so als zwei Geistesriesen am Eingang der Neuzeit. Es war die Geburtsstunde des neueren Laizismus. Das Ende des geistlichen Mittelalters kündigte sich an.
  Die Übersteigerung der päpstlichen Machtansprüche, wie sie in der Bulle Bonifaz' VIII. "Unam sanctam" (1302) noch einmal deutlich wurde, war nur Ausdruck der Krisensituation, in der sich das Papsttum befand. Nur das Bündnis mit den Fürsten auf Grund eines für beide Seiten noch jahrhundertelang tragfähigen Kompromisses rettete die kuriale Macht vor dem Untergang. Der geistliche Feudalismus schloß mit dem weltlichen ein Bündnis gegen das Bürgertum, wie es schon 1336 Kaiser Ludwig den Päpsten in Avignon angeboten hatte.
  Erst wenn man den Ausgang dieses Ringens betrachtet, können die Weitsicht und der Mut jener Denker am Tor der Neuzeit richtig beurteilt werden. Ein so guter Kenner der Kirchengeschichte wie Hubert Jedin beurteilt die Bedeutung Marsilius' von Padua - gleiches gilt für Wilhelm von Occam - wie folgt: "Er brach nicht nur Steine aus dem Bau der päpstlichen Weltmonarchie heraus, er trug das Gebäude bis zu den Fundamenten ab und setzte an seine Stelle die Vision einer machtlosen, auf das Spirituelle beschränkten, einer armen, undogmatisch regierten Kirche, über deren irdische Erscheinungsform und über deren Besitz der Staat gebietet" - wobei die geforderte Unterstellung der Kirche als "irdischer Erscheinungsform" unter den Staat nur aus den spezifischen spätmittelalterlichen Geschichtsbedingungen zu verstehen ist.

1 Diese Seite entspricht den Seiten 11-37 in Eduard Winter, Ketzerschicksale, Patmos (Albatros) Verlag, Düsseldorf 2002. Die insgesamt 10 Anmerkungen habe ich nicht mit aufgenommen, da sie allesamt nur Literaturhinweise enthalten.
  Die Abbildung von Wilhelm von Ockham ist dem Buch entnommen.